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Psychiatrie und Strafjustiz

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<strong>und</strong> des «Schutzes der Gesellschaft» an die Seite des traditionellen Strafzwecks der Sühne gestellt wis-<br />

sen. 1358<br />

Mit dem Bekenntnis zum kriminalpolitischen Kompromiss einher ging das Festhalten an der prinzipiellen<br />

Verantwortlichkeit von StraftäterInnen. Gemäss der Tradition des bürgerlichen Schuldstrafrechts sollte<br />

dieses Prinzip lediglich in Ausnahmefällen – etwa bei Geisteskranken – durchbrochen werden. Positionen,<br />

die über die im Entwurf des B<strong>und</strong>esrats verwirklichte Medikalisierung des Strafrechts hinausgingen, waren<br />

dementsprechend selten. Radikale kriminalpolitische Positionen, wie sie in den 1890er Jahren von einzel-<br />

nen Psychiatern <strong>und</strong> Juristen vertreten worden waren, waren in der Zwischenkriegszeit kaum mehr aus-<br />

zumachen. Als einer der wenigen Parlamentarier stellte der Sozialdemokrat Huber die soziale Bedingtheit<br />

des Verbrechens in den Vordergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> relativierte die individuelle Verantwortlichkeit von StraftäterIn-<br />

nen: «Wir Sozialdemokraten haben in mancher Hinsicht eine etwas andere Auffassung über das Verbre-<br />

chen <strong>und</strong> den Verbrecher, als wie sie in den kantonalen Strafrechten niedergelegt ist <strong>und</strong> wie sie auch zum<br />

Ausdruck kommt im vorliegenden Entwurf. Wir betrachten Staat <strong>und</strong> Gesellschaft als die Eltern des<br />

Verbrechens <strong>und</strong> des Verbrechers.» Staat <strong>und</strong> Gesellschaft würden sowohl über die Definition der zu<br />

schützenden Rechtsgüter als auch über die Mitgestaltung des sozialen Milieus Einfluss auf die Kriminalität<br />

ausüben. Ein Verbrechen sei deshalb nie allein «Tat eines Einzelnen»: «Jede Tat die begangen wird, jede<br />

Untat, die begangen wird, für die tragen wir andern auch mit einen Teil der Schuld.» 1359 Huber lehnte die<br />

traditionellen Strafzwecke der Vergeltung <strong>und</strong> der Abschreckung generell ab <strong>und</strong> begrüsste die im Vor-<br />

entwurf vorgesehenen Erziehungs- <strong>und</strong> Sicherungsmassnahmen: «Das Strafrecht hat heute andere Aufga-<br />

ben [als Vergeltung <strong>und</strong> Abschreckung], es soll erziehen, es soll den Menschen, der vorher nicht mit den<br />

notwendigen Eigenschaften versehen wurde, um im Lebenskampf bestehen zu können, zum Lebens-<br />

kampf tüchtig machen. Das neue Strafrecht soll auch versuchen, da einzugreifen, wo man an der Erzie-<br />

hungsmöglichkeit zweifelt. Es hat die Gesellschaft einfach zu sichern. Das hat nichts mehr mit Strafe zu<br />

tun. Man kann <strong>und</strong> soll die Gesellschaft sichern auch vor dem Menschen, vor dem das Strafrecht Halt<br />

machen muss, weil er nicht strafrechtlich verantwortlich ist.» 1360<br />

Das Votum des Sozialdemokraten Huber war Bestandteil eines in den 1930er Jahren weitgehend margina-<br />

lisierten Diskursstranges, der zumindest ansatzweise das strafrechtliche Verantwortlichkeitsprinzip in Fra-<br />

ge stellte. Angesichts der in der Zwischenkriegszeit selbst innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong> festzustellenden Ten-<br />

denz, die Messlatte der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (wieder) zu senken, erstaunt es nicht, dass Hu-<br />

bers Position im Parlament kaum auf Resonanz stiess. Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht allerdings<br />

die kontroverse Debatte um die Todesstrafe. In diesem Zusammenhang meldeten selbst freisinnige Par-<br />

lamentarier Bedenken an der prinzipiellen Verantwortlichkeit des Rechtssubjekts an. Die Todesstrafe stell-<br />

te nebst den Bestimmungen über die Abtreibung den wichtigsten Streitpunkt innerhalb des «Bürger-<br />

blocks» dar. Vor allem Vertreter der Katholisch-Konservativen machten sich für die Todesstrafe stark<br />

oder wollten zumindest den Kantonen den Entscheid über deren Beibehaltung überlassen. 1361 Dass Zweifel<br />

am Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit gerade im Zusammenhang mit der Todesstrafe – <strong>und</strong><br />

nicht etwa anlässlich der Detailberatung über die Zurechnungsfähigkeit – laut wurden, ist insofern be-<br />

zeichnend, als bereits im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert besonders Verbrechen, bei welchen die Anwendung der Todes-<br />

1358 Sten. Bull. SR, 1931, 129.<br />

1359 Sten. Bull. NR, 1928, 20 f.<br />

1360 Sten. Bull. NR, 1928, 22.<br />

1361 Vgl. Sten. Bull. NR, 1928, 110-113 (Votum NR Emil Grünenfelder, SG). Im April 1912 hatte die Expertenkommission einen<br />

Vorschlag angenommen, der es den Kantonen frei stellte, die Todesstrafe auf ihrem Gebiet einzuführen. 1915 war die Kommission<br />

auf diesen Beschluss zurückgekommen <strong>und</strong> hatte auf die Todesstrafe vollständig verzichtet. Der Entwurf des B<strong>und</strong>esrats<br />

lehnte die Todesstrafe ebenfalls explizit ab. Vgl. BBl 1918 IV, 12f.; Sutter, 1997, 57-61.<br />

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