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Psychiatrie und Strafjustiz

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• Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass wesentliche Impulse für eine forcierte Medikalisie-<br />

rung kriminellen Verhaltens von der internationalen Strafrechtsbewegung der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

ausgingen. Deren Reformbestrebungen können nicht zuletzt als Versuch gewertet werden, die Be-<br />

dingungen, unter denen eine strukturelle Koppelung zwischen den Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Psychiatrie</strong> erfolgt, neu zu definieren. In einer solchen Perspektive ist nach der Bedeutung von Medika-<br />

lisierungspostulaten im Rahmen der Strafrechtsreform in der Schweiz zu fragen. Betrachtet man diese Re-<br />

formbestrebungen als Ergebnis kollektiver Lernprozesse, stellt sich zunächst die Frage nach den ih-<br />

nen zugr<strong>und</strong>e liegenden Problemeinschätzungen, Lösungsvorschlägen, Interessen- <strong>und</strong> Akteurs-<br />

konstellationen. Welche kriminalpolitischen Leitbilder verbanden die involvierten AkteurInnen mit<br />

einer generellen oder teilweisen Medikalisierung kriminellen Verhaltens? Was erwarteten sie von der<br />

Integration psychiatrischer Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte ins Strafrecht? Auf welche Wi-<br />

derstände stiessen ihre diesbezüglichen Vorschläge? Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die<br />

Rolle der Schweizer Psychiater zu richten, die seit den 1880er Jahren eigene kriminalpolitische Posi-<br />

tionen formulierten <strong>und</strong> sich 1893 in die Strafrechtsdebatte einschalteten. Welche kriminal- <strong>und</strong><br />

standespolitischen Absichten lagen diesen Interventionen zugr<strong>und</strong>e? Über diese programmatische<br />

Eben hinaus ist aber auch die konkrete Realisierung der Strafrechtsreform im Rahmen eines ausge-<br />

sprochen langwierigen <strong>und</strong> komplexen Gesetzgebungsverfahrens zu untersuchen. Einzubeziehen<br />

sind namentlich die institutionellen Rahmenbedingungen des politischen Systems, die (wandelnden)<br />

Ausprägungen einer spezifischen politischen Kultur sowie situative politische Strategien.<br />

• Ausgehend von der Strafrechtsdebatte, stellt sich die Frage nach dem konkreten Zusammenwirken von<br />

Justizbehörden <strong>und</strong> psychiatrischen Sachverständigen im Rahmen der kantonalen Justizpraxis. Anhand der Ent-<br />

wicklung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis im Kanton Bern soll die These einer<br />

zunehmenden arbeitsteiligen Kooperation zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> empirisch validiert<br />

werden. Dabei ist den verschiedenen Dimensionen des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds<br />

Rechnung zu tragen. Zunächst stellt sich die Frage nach den institutionellen Handlungsspielräumen der<br />

beteiligten (staatlichen) AkteurInnen. In welche rechtlich-institutionelle Dispositive waren psychiat-<br />

rische Begutachtungen eingeb<strong>und</strong>en? Wie beeinflusste die Kompetenzverteilung zwischen Justiz<br />

<strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> die Begutachtungspraxis? Über welchen institutionellen <strong>und</strong> sozialen Ressourcen<br />

verfügten die Berner Psychiater? Zweitens ist nach der langfristigen Entwicklung dieser Begutach-<br />

tungspraxis zu fragen. Wie entwickelte sich die Begutachtungspraxis im Kanton Bern zwischen<br />

1890 <strong>und</strong> 1920? Ist diese Entwicklung mit derjenigen in anderen Deutschschweizer Kantonen ver-<br />

gleichbar? Lassen sich Regelmässigkeiten hinsichtlich der gestellten Diagnosen <strong>und</strong> der begutachte-<br />

ten Delikte feststellen. Inwiefern prägten geschlechtsspezifische Merkmale die forensisch-<br />

psychiatrische Praxis? Einen dritten Schwerpunkt bildet die Rekonstruktion der mit der forensisch-<br />

psychiatrischen Begutachtungspraxis verb<strong>und</strong>enen institutionellen Mechanismen. Welche Instanzen des<br />

Justizapparats waren in forensisch-psychiatrische Begutachtungen involviert? Wie funktionierte das<br />

Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Instanzen? Welches waren die Umstände für die An-<br />

ordnung psychiatrischer Gutachten? In welchem Rahmen fanden die eigentlichen Begutachtungen<br />

statt? Auf welche Informationsquellen stützten sich die psychiatrischen Sachverständigen bei der<br />

Erstellung ihrer Gutachten? Über welche Handlungsspielräume verfügten die Exploranden bei der<br />

Begutachtung? Viertens ist nach den spezifischen Deutungsmustern psychiatrischer Gutachten zu fragen.<br />

Welche Funktionen kam einer psychiatrischen Ausdeutung kriminellen Verhaltens innerhalb des<br />

Strafverfahrens zu? Auf welche psychiatrische Deutungsmuster rekurrierten die Berner Psychiater?<br />

Welches waren die spezifischen diskursiven Strukturen solcher psychiatrischer Deutungskonstrukti-<br />

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