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Psychiatrie und Strafjustiz

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8 «Gemeingefährliche Individuen»: Sichernde Massnahmen als Gesellschaftsschutz<br />

Die in Kapitel 7 untersuchten Fallbeispiele zeigen, dass sich im Untersuchungszeitraum die Aufgabe der<br />

psychiatrischen Sachverständigen keineswegs in der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit erschöpfte.<br />

Häufig verlangten die Gerichte <strong>und</strong> Untersuchungsbehörden von den Psychiatern zusätzlich Aussagen<br />

über die «Gemeingefährlichkeit» von StraftäterInnen. Fälle wie derjenige von Hans Rudolf W. führen vor<br />

Augen, dass das Konstatieren einer solchen «Gemeingefährlichkeit» für die betroffenen DelinquentInnen<br />

meist einschneidende Konsequenzen hatte, sahen sie sich doch dadurch einem neuartigen institutionellen<br />

Zugriff ausgesetzt. Aufgr<strong>und</strong> des im Kanton Bern geltenden rechtlichen Dispositivs wurden für unzu-<br />

rechnungsfähig bef<strong>und</strong>ene StraftäterInnen regelmässig anstelle einer Strafe auf unbestimmte Zeit in eine<br />

Irrenanstalt versetzt. Die beschriebenen Medikalisierungsprozesse erhielten damit eine institutionelle<br />

Komponente, durch die sich die strukturelle Koppelung der Bezugssysteme <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong><br />

zunehmend auf den Bereich des Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzugs ausweitete. Für die psychiatrischen An-<br />

stalten bedeutete dies im Gegenzug, dass sie zusätzlich zu ihren Begutachtungs- auch Verwahrungsaufga-<br />

ben zu erfüllen hatten. Analog zur psychiatrischen Begutachtungspraxis war die Massnahmenpraxis im<br />

Kanton Bern in ein Dispositiv von gesetzlichen Bestimmungen, administrativen Zuständigkeiten <strong>und</strong><br />

spezifischen Deutungsmustern eingebettet. Wie die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit war das Kons-<br />

tatieren einer «Gemeingefährlichkeit» in jedem Einzelfall das Produkt von Aushandlungsprozessen, an<br />

denen sich psychiatrische Sachverständige, Justiz- <strong>und</strong> Verwaltungsbehörden <strong>und</strong> nicht zuletzt die betrof-<br />

fenen StraftäterInnen selbst beteiligten. Gleichzeitig wurde die Massnahmenpraxis durch Deutungsmuster<br />

geprägt, die durch juristische, administrative <strong>und</strong> medizinische Traditionen geprägt waren.<br />

Dieses Kapitel untersucht die Massnahmenpraxis im Kanton Bern zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 im Hinblick<br />

auf die Ausdifferenzierung der institutionellen Zugriffe auf «gemeingefährliche» DelinquentInnen, die<br />

aufgr<strong>und</strong> psychiatrischer Gutachten aus dem Bezugssystem der <strong>Strafjustiz</strong> ausgegliedert wurden. Unterka-<br />

pitel 8.1 analysiert zunächst die für die Massnahmenpraxis massgeblichen Gesetzesbestimmungen vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> der Entstehung einer kantonalen Administrativjustiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-<br />

derts. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie sich die Rechtsfigur des «gefährlichen Individuums» im<br />

bernischen Straf-, Armenpolizei- <strong>und</strong> Verwaltungsrecht im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts etablieren konnte.<br />

In Unterkapitel 8.2 erfolgt eine quantitative Untersuchung der Massnahmenpraxis zwischen 1895 <strong>und</strong><br />

1920. Die beiden Unterkapitel 8.3 <strong>und</strong> 8.4 untersuchen am Beispiel der 1908 erfolgten Ausweitung der<br />

Massnahmenpraxis auf vermindert zurechnungsfähige DelinquentInnen die institutionellen Mechanismen<br />

<strong>und</strong> Zuschreibungsprozesse, die mit der Verhängung sichernder Massnahmen verb<strong>und</strong>en waren.<br />

8.1 «Gemeingefährlichkeit» als administrativrechtliche Kategorie<br />

Wie in anderen Schweizer Kantonen bestand auch im Kanton Bern eine gesetzliche Bestimmung über<br />

sichernde Massnahmen gegen unzurechnungsfähige <strong>und</strong> «gemeingefährliche» Straftäter. Der entsprechen-<br />

de Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs von 1866 lautete: «Dem Regierungsrat steht das Befugnis zu,<br />

gegen Personen, die wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit von Strafe befreit worden sind (Art. 43 <strong>und</strong><br />

45), oder die ihrer Jugend wegen keiner Strafverfolgung unterliegen (Art. 44), wenn es die öffentliche Si-<br />

cherheit erfordert, geeignete Sicherungsmassregeln zu treffen, die nötigen Falls in der Verwahrung in einer<br />

angemessenen Enthaltungs- oder Irrenanstalt bestehen können.» Vorgesehen war, dass «die Behörde,<br />

welche den Strafpunkt erledigt, [...] wenn sie die Anordnung von Sicherheitsmassregeln für nötig hält,<br />

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