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Psychiatrie und Strafjustiz

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Gewissermassen als männerspezifisches Pendant zum Fall von Luise W. lässt sich das wiederholt zitierte<br />

Beispiel von Fritz R. anfügen. Für die Sachverständigen hing dessen «Unfähigkeit zur sittlichen Selbstfüh-<br />

rung» massgeblich mit seinem Verhalten als Ehemann <strong>und</strong> Vater zusammen. Als «Mangel an Pflichtge-<br />

fühl» bezeichneten sie die Weigerung von Fritz R., nach seiner Bevorm<strong>und</strong>ung weiter für die Familie zu<br />

sorgen. Aus den Untersuchungsakten übernahmen die Psychiater die Aussage, dass Fritz R. den ganzen<br />

Sommer vor der Begutachtung nicht gearbeitet <strong>und</strong> auch sonst nichts für die Familie getan habe. Fritz R.<br />

wies diesen Vorwurf allerdings zurück, als er rechtfertigend erklärte, «er habe immer so viel gearbeitet, als<br />

es für seinen Unterhalt nötig sei, etwas für seine Familie zu tun, habe man nie von ihm verlangt, auch<br />

finde er, es sei die Sache der Gemeinde, die ihm die frei Verfügung über sein Vermögen entzog.» In An-<br />

lehnung an Formulierungen aus Krafft-Ebings Gerichtlichen Psychopathologie, brachte das Gutachten die Wei-<br />

gerung von Fritz R., sich der normativen Rolle des Familienernährers zu fügen, schliesslich mit einer<br />

«Verkümmerung der höchsten geistigen Funktionen» in Zusammenhang, die sich ebenfalls in einer «Un-<br />

fähigkeit zur richtigen Verwertung der verfügbaren Arbeitskräfte <strong>und</strong> Geldmittel» niederschlagen wür-<br />

den. 1004 Zu dieser «Verkümmerung der höheren geistigen Funktionen» rechneten die Sachverständigen<br />

auch die Fritz R. sichtlich fehlende Liebe zu seinen Kindern. So schilderte das Gutachten ausführlich, wie<br />

dieser seine Frau <strong>und</strong> Kinder schlug <strong>und</strong> misshandelte: «Ein Kind schlug er einmal durch die Küche hin-<br />

aus, einem andern schlug er die Türe so heftig an, dass dasselbe unters Bett flog. Die Frau kam mit Beu-<br />

len, Verletzungen im Gesicht [...] zu den Nachbarn gesprungen, bei denselben Schutz <strong>und</strong> Hilfe su-<br />

chend.» 1005 Wenngleich die Sachverständigen aufgr<strong>und</strong> ihrer Erk<strong>und</strong>igungen beim Gemeindeschreiber der<br />

Wohngemeinde der Behauptung von Fritz R., seine Frau betrüge ihn, eine gewisse Berechtigung nicht<br />

absprechen wollten, sahen sie doch in solchen «wüsten häuslichen Szenen», den Schlägen <strong>und</strong> Misshand-<br />

lungen gegen Frau <strong>und</strong> Kinder im Wesentlichen ein Zeichen der «gesteigerten, zeitweise ins Krankhafte<br />

gehenden Reizbarkeit», die ihrerseits eine Folge der «Entartung» sei. Fritz R. verstiess in den Augen seiner<br />

Umgebung, aber auch der Sachverständigen in offensichtlicher Weise gegen die Norm des arbeitsamen,<br />

selbständigen Bürgers, der sich um das materielle <strong>und</strong> psychische Wohl seiner Familie kümmerte. In ekla-<br />

tanter Weise brach er den Verhaltenskodex seines ländlichen Umfelds aber erst mit seinen Branddrohun-<br />

gen <strong>und</strong> Angriffen gegen Nachbarn, die dann zur Anzeige führten. Die von den Sachverständigen konsta-<br />

tierte «soziale Unverträglichkeit» umfasste somit nicht nur Verfehlungen im Bereich des Familienlebens,<br />

sondern auch im Bereich des nachbarschaftlichen Zusammenlebens <strong>und</strong> der dörflichen Geselligkeit. Ähn-<br />

lich wie im Fall von Luise W. führten psychiatrische Deutungsmuster wie eine «abnorme Reizbarkeit» oder<br />

eine «Gemütsstumpfheit» bei Fritz R. dazu, dass sich seine Verfehlungen am männlichen Ideal des fleissi-<br />

gen <strong>und</strong> sorgenden Familienvaters <strong>und</strong> umgänglichen Mitbürgers auf eine «Entartung» zurückführen lies-<br />

sen. Die von seiner Umgebung festgestellten Verstösse gegen Erwartungen <strong>und</strong> Normen wurden unter<br />

dem Blick der Psychiater zu einer pathologisch begründeten «Unfähigkeit zur sittlichen Selbstführung».<br />

Verstösse gegen soziale Normen gerieten zu psychischen «Abnormitäten».<br />

Nicht Verfehlungen am Ideal des bürgerlichen Familienvaters standen im Fall des 20jährigen Paul C. im<br />

Vordergr<strong>und</strong>, der 1918 als Hilfsbriefträger in Bern verschiedene Wertsendungen unterschlagen hatte. Was<br />

die Sachverständigen der Waldau bei ihm an Erwartungsbrüchen erkannten, lässt sich unter den Stichwor-<br />

1004 Krafft-Ebing, 1892: «Es fehlt [bei Psychopathen] damit der Charakter, die Einsicht in Wert, Pflichten, Bedeutung des individuellen<br />

Lebens. Die psychischen Folgen sind Unfähigkeit der Erreichung <strong>und</strong> Behauptung einer sozialen Stellung, Unfähigkeit zu einem<br />

energievollen, zielbewussten Denken <strong>und</strong> Streben, der Verwertung der Mittel (Geld) zur Erreichung höherer Lebensziele, Unfähigkeit<br />

zu einer sittlichen Selbstführung, mit der Gefahr, unsittlichen <strong>und</strong> selbst verbrecherischen, dazu vielfach pervers <strong>und</strong> mit krankhafter<br />

Stärke geltend machenden Antrieben zu erliegen.» Kursiv hervorgehoben sind Formulierungen, die wortwörtlich im Gutachten<br />

über Fritz R. auftauchen.<br />

1005 PZM KG o.N. (1908), Psychiatrisches Gutachten über Fritz R., o.D. [1908]. Zur Einschätzung männlicher Gewalt in Ehe <strong>und</strong><br />

Familie: Töngi, 2000.<br />

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