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Psychiatrie und Strafjustiz

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fungspunkte äusserst vielschichtig präsentieren, ergibt sich zu einem guten Teil aus dem interdisziplinären<br />

Charakter der forensisch-psychiatrischen Praxis selbst. Die folgende Übersicht über den Forschungsstand<br />

verfolgt eine mehrfache Absicht: zunächst geht es darum, grob jene beiden Forschungsbereiche zu skizzieren,<br />

die für die vorliegende Untersuchung der Entstehung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong><br />

in der Schweiz von zentraler Bedeutung sind. Im Vordergr<strong>und</strong> stehen Ansätze einer sozialgeschichtlich erwei-<br />

terten <strong>Psychiatrie</strong>geschichte <strong>und</strong> der Strafrechtsgeschichte, respektive der historischen Kriminalitätsforschung. Für beide<br />

Bereiche soll auf besonders relevante Forschungsansätze hingewiesen <strong>und</strong> den Forschungsstand zur<br />

Schweiz skizziert werden. Im Anschluss daran wird eine kurze Übersicht über die Quellen präsentiert, welche<br />

für die vorliegende Untersuchung ausgewertet worden sind.<br />

<strong>Psychiatrie</strong>geschichte in sozialgeschichtlicher Erweiterung<br />

<strong>Psychiatrie</strong>geschichte wurde lange Zeit von den Exponenten des Fachs selbst geschrieben. Im Vorder-<br />

gr<strong>und</strong> stand dabei das Nachzeichnen des Entwicklungsfortschritts des Disziplin <strong>und</strong> das Verfassen von<br />

Biographien berühmter <strong>Psychiatrie</strong>ärzte. 84 Die Grenzen dieser affirmativen Standesgeschichte offenbarten<br />

sich erstmals deutlich mit dem Erscheinen von Michel Foucaults Histoire de la folie à l’âge classique zu Beginn<br />

der 1960er Jahren, die das humanitäre Selbstbild der Disziplin radikal in Frage stellte. Im Anschluss an<br />

diesen «Bombenschlag» (Mark S. Micale/Roy Porter) geriet die <strong>Psychiatrie</strong>geschichte teilweise in den Sog<br />

einer politisch <strong>und</strong> therapeutisch motivierten Anti-<strong>Psychiatrie</strong>, die in der Anstaltspsychiatrie primär einen<br />

Disziplinarapparat im Dienste der herrschenden Klasse sah. 85 Die <strong>Psychiatrie</strong>kritik gab jedoch gleichzeitig<br />

wichtige Anstösse für eine in den 1970er Jahren einsetzende sozialhistorische Beschäftigung mit der Geschichte<br />

der <strong>Psychiatrie</strong>. Im Zentrum stand dabei zunächst die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft bei der<br />

Herausbildung eines neuen institutionellen Umgangs mit den «Irren» seit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Diese Un-<br />

tersuchungen brachten zugleich erste Korrekturen an dem von den <strong>Psychiatrie</strong>kritikern gezeichneten Bild<br />

einer «totalen Institution» (Erving Goffmann) an. 86 In Deutschland rückte in den 1980er Jahren die Ein-<br />

bindung der <strong>Psychiatrie</strong> in die NS-Rassenpolitik ins Zentrum der Forschungsbemühungen. 87 Im angel-<br />

sächsischen Raum vermochte sich dagegen eine um wissenssoziologische, geschlechter- <strong>und</strong> kulturge-<br />

schichtliche Aspekte erweiterte <strong>Psychiatrie</strong>geschichte im Umfeld des 1985 erschienenen Sammelwerks The<br />

Anatomy of Madness sowie der 1989 gegründeten Zeitschrift History of Psychiatry zu sammeln. 88 Im Zuge des<br />

cultural turn innerhalb der Geschichtswissenschaft fassten Ansätze zu einer derart erweiterten <strong>Psychiatrie</strong>-<br />

geschichte in den 1990er Jahren auch im deutschsprachigen Raum Fuss.<br />

Weder die traditionelle Medizingeschichte, noch die kritische <strong>Psychiatrie</strong>geschichtsschreibung haben der<br />

Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung der forensisch-psychiatrischen Praxis im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert grosse<br />

Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass auch für die kritische Psychiat-<br />

riegeschichte lange Zeit die Ausdifferenzierung der institutionellen <strong>Psychiatrie</strong> im Vordergr<strong>und</strong> stand.<br />

Dazu kam, dass sich führende Anti-Psychiater gerade auf dem Gebiet der Forensik über die Stossrichtung<br />

84 Vgl. zur <strong>Psychiatrie</strong>geschichtsschreibung: Micale/Porter, 1994. Als einschlägiges Beispiel für eine klassische, von Psychiatern<br />

selbst geschriebene <strong>Psychiatrie</strong>geschichte: Ackerknecht, 1985. Als neueres Beispiel: Shorter, 1999.<br />

85 Vgl. Foucault, 1972 (1961); Goffmann, 1973 (1961). Zur Rezeption Foucaults im deutschsprachigen Raum: Dinges, 1996.<br />

86 Vgl. die Pionierstudien von Dörner, 1995 (1969); Castel, 1979; Scull, 1976; Blasius, 1980; Showalter, 1985; Blasius, 1994. Einen<br />

patientenzentrierten Ansatz verfolgt dagegen Porter, 1987.<br />

87 Vgl. die exemplarischen Untersuchungen von Klee, 1985; Bock, 1986; Siemen, 1987; Schmuhl, 1987. Inzwischen besteht im<br />

deutschen Sprachraum eine weit verzweigte Literatur zur Problematik der Eugenik, siehe beispielhaft: Kühl, 1997; Weindling,<br />

1989; Weingart, 1988. Zur Eugenik im internationalen Kontext:: Dowbiggin, 1997; Broberg/Roll-Hansen; Carol, 1995.<br />

88 Vgl. Bynum/Porter/Shepherd, 1985/87.<br />

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