13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

on eines Entwurfs für ein Irrengesetz zur Sprache gekommen. Der Verfasser dieses Entwurfs, der Basler<br />

Psychiater Friedrich Brenner (1809–1874), hatte unter anderem das regelmässige Hinzuziehen ärztlicher<br />

Sachverständiger bei zweifelhaften Geisteszuständen sowie die generelle Straflosigkeit für geisteskranke<br />

DelinquentInnen gefordert. 485 Dieses «erste sichtbare Zeichen für die Bemühungen der schweizerischen<br />

Irrenärzte, sich an den Diskussion <strong>und</strong> Ausgestaltung zivil- oder strafrechtlicher Vorlagen aktiv zu beteili-<br />

gen» (Patrick Schwengeler), war jedoch nach dem Tode Brenners rasch wieder versandet. 486 Erst in der<br />

Ära Forels beschäftigten sich die Schweizer Psychiater wieder intensiv mit kriminalpolitischen Fragen des<br />

Strafrechts. Dieses strafrechtliche Engagement war zugleich ein wichtiges Element der von Forel <strong>und</strong><br />

seinen Schülern vorangetriebenen disziplinären Konsolidierung der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>. Mit der Forde-<br />

rung nach einer konsequenten Medikalisierung kriminellen Verhaltens verfolgten führende Schweizer<br />

Psychiater in den 1890er Jahre ein disciplinary project, von dem sie sich eine deutliche Ausweitung ihres Tä-<br />

tigkeitsfelds im Bereich des Strafrechts erhofften. Zum Ausdruck kam diese Strategie beispielhaft in den<br />

erwähnten Forderungen Forels <strong>und</strong> Franks an die Adresse der Juristenschaft. Es käme allerdings einer<br />

Überschätzung der Konsistenz dieses sozialinterventionistisch ausgerichteten disziplinären Projekts gleich,<br />

wenn darob die Kluft zwischen einem standespolitisch motivierten Utopismus <strong>und</strong> einer pragmatischen<br />

Reformbereitschaft übersehen würde, die sich gerade im Bereich der psychiatrischen Kriminalpolitik auf-<br />

tat. Die kriminalpolitischen Konzeptionen der Schweizer Psychiater, die im Folgenden dargestellt werden<br />

sollen, waren durch das Nebeneinander von Forderungen nach einer radikalen Umgestaltung des Straf-<br />

rechts <strong>und</strong> einer weitgehenden Medikalisierung kriminellen Verhaltens sowie pragmatischen Ansätzen<br />

geprägt, welche sich um eine justiziable Integration psychiatrischer Anliegen in die laufende Strafrechtsre-<br />

form bemühten. 487<br />

Unter den Schweizer Psychiatern vertraten vor allem Forel <strong>und</strong> sein Schüler Bleuler einen kriminalpoliti-<br />

schen Radikalismus, der teilweise utopische Züge trug. 488 Über die erwähnte Rezeption von Lombrosos<br />

Verbrechertypus hinaus, bekannten sich beide wiederholt zu den kriminalpolitischen Postulaten der Kri-<br />

minalanthropologen <strong>und</strong> gehörten damit mit dem Juristen Emil Zürcher zu den überzeugtesten Verfech-<br />

ter des neuen Strafparadigmas in der Schweiz. Forel negierte bereits 1884 das Vorhandensein eines «freien<br />

Willens» <strong>und</strong> zog daraus weitreichende Konsequenzen für das Strafrecht: «Der Wille des Menschen ist nur<br />

für unser Bewusstsein (subjektiv) frei, in Wahrheit aber ursächlich bedingt, wie alle übrigen Hirnfunktionen.<br />

Wenn nun der menschliche Wille nicht absolut frei ist, so besteht unsere Strafgesetzgebung auf einer<br />

falschen Voraussetzung. Statt der Begriffe Strafmass <strong>und</strong> Sühne, sollen die Begriffe Unschädlichmachung<br />

<strong>und</strong> moralische Erziehung oder Übung, resp. Angewöhnung eintreten. – Strafen <strong>und</strong> Belohnungen dürfen<br />

nur Mittel zum Zweck sein.» 489 Seine hirnanatomischen Studien <strong>und</strong> hypnotischen Experimente bewiesen<br />

Forel, dass das menschliche Verhalten Resultat eines mehr oder weniger den äusseren Anforderungen<br />

angepassten Funktionierens des Hirns sei. Aphoristisch brachte er damit die alte Frage nach der Natur des<br />

Menschen auf den Punkt: «Das Gehirn ist der Mensch». 490 In den Augen Forels wurden sowohl der geistig<br />

ges<strong>und</strong>e wie der geistig kranke Mensch durch die Struktur ihrer Gehirne geleitet, wodurch der Rechtsbeg-<br />

riff der Zurechnungsfähigkeit obsolet würde. Wie die italienischen Kriminalanthropologen definierte Forel<br />

die strafrechtliche Verantwortlichkeit als «adäquate Anpassung» an die Bedürfnisse der Gesellschaft. 491<br />

485 Brenner, 1871.<br />

486 Barras/Gasser, 2000, 16; Schwengeler, 1999, 36-44.<br />

487 Zu einem ähnlichen Schluss bezüglich der kriminalpolitischen Haltung Kraepelins gelangt: Engstrom, 2001.<br />

488 Vgl. Möller/Hell, 1997; Wottreng, 1999, 139-142; Bomio, 1990.<br />

489 Forel, 1884, 18f.<br />

490 Forel, 1907, 171.<br />

491 Forel, 1889, 16; Forel, 1901.<br />

108

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!