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Psychiatrie und Strafjustiz

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de bei ihm gewiss seelische Defekte feststellen können». 781 Bereits am folgenden Tag stimmte der zustän-<br />

dige Staatsanwalt dem Antrag des Verteidigers zu, um «dem Angeklagten im Hinblick auf die Schwere des<br />

Falles auch dieses Verteidigungsmittel zu gestatten, um ihn in seinen Rechten in keiner Weise zu verkür-<br />

zen». 782 Dieses Fallbeispiel zeigt, dass der Wunsch nach einer psychiatrischen Begutachtung für einzelne<br />

DelinquentInnen sehr wohl eine Handlungsoption darstellen konnte. Wie noch zu zeigen sein wird, spiel-<br />

ten solche Anträge seitens der Angeschuldigten im Hauptverfahren allerdings eine grössere Rolle als im<br />

Stadium der Voruntersuchung.<br />

Was das Stadium der Voruntersuchung anbelangt, ging die Initiative zur Begutachtung in der überwiegen-<br />

den Mehrheit der Fälle von den Untersuchungsrichtern oder Staatsanwälten aus, die sich auf ihre eigenen<br />

Wahrnehmungen sowie auf Angaben in den Untersuchungsakten stützten. Die Aufschlüsselung der Be-<br />

gutachtungsanlässe zeigt, dass in vielen Fällen bereits vor der Anordnung eines Gutachtens medizinische<br />

Diagnosen im Spiel waren. Den Justizbeamten lagen beispielsweise ärztliche Atteste oder Hinweise auf frü-<br />

here Anstaltsaufenthalte vor. Im Fall des wegen Diebstahls angeschuldigten Christian R. bewog ein bei<br />

den Akten liegendes Arztzeugnis den zuständigen Staatsanwalt, eine psychiatrische Begutachtung anzuordnen.<br />

Der praktizierende Arzt hatte in seinem Zeugnis darauf hingewiesen, dass Christian R. an einer<br />

«Neurasthenie» leide <strong>und</strong> möglicherweise vermindert zurechnungsfähig sei. Der Staatsanwalt hielt in sei-<br />

nem Begutachtungsbeschluss fest: «[...] gerade die Beurteilung dieser Krankheit in bezug auf ihren Einfluss<br />

auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit bei Begehung bestimmter Delikte erfordert unbedingt die Beizie-<br />

hung eines psychiatrischen Spezialisten». 783 Dieses Fallbeispiel bestätigt die bereits im Zusammenhang mit<br />

der Frage der Monopolisierung von Begutachtungsaufgaben durch die <strong>Psychiatrie</strong> gemachte Feststellung,<br />

dass die Berner Justizbehörden, Gutachten von Psychiatern im Allgemeinen eine höhere Aussagekraft als<br />

solchen von nicht spezialisierten Ärzten zubilligten.<br />

Anlass zu einer psychiatrischen Begutachtung gaben häufig auch Hinweise auf frühere Anstaltsaufenthalte.<br />

So begründete der zuständige Untersuchungsrichter im Fall des wegen Totschlags angeklagten Gottlieb A.<br />

die Anordnung eines Gutachtens damit, dass dieser bereits zwei Jahre früher in der Basler Irrenanstalt<br />

Friedmatt behandelt worden sei. Zudem sei Gottlieb A. bei seiner beruflichen Tätigkeit in Sarnen <strong>und</strong><br />

Burgdorf wiederholt durch eigentümliches Benehmen aufgefallen <strong>und</strong> habe Verfolgungsideen geäussert. 784<br />

Im Fall von Johann M., der 1913 seine Frau mit einem Hammer erschlug, erfolgte die Tat sogar unmittel-<br />

bar im Anschluss an die Entlassung aus der Irrenanstalt. Johann M. war bereits fünf Mal in Münsingen<br />

hospitalisiert gewesen. Bei seinen fünften Eintritt hatte er selbst die Aufnahme verlangt, weil er sich von<br />

seiner Frau <strong>und</strong> einem Pflegekind «geneckt <strong>und</strong> verfolgt» fühlte. Auf Verlangen seiner Frau wurde er aber<br />

bereits zwei Tage später wieder entlassen. Vier Tage später, «wollte <strong>und</strong> konnte» Johann M., wie er den<br />

Sachverständigen erzählen sollte, «die Behandlung der Frau nicht mehr ertragen <strong>und</strong> beschloss etwa 1<br />

St<strong>und</strong>e nach dem Frühstück, die Frau zu töten». Nach der Mordtat stürzte er sich in den Brienzersee, um<br />

sich das Leben zu nehmen. In diesem Fall ordnete der zuständige Untersuchungsrichter die Begutachtung<br />

aufgr<strong>und</strong> der mehrfachen Anstaltsaufenthalte an. 785 In den Fällen von Christian R., Gottlieb A. <strong>und</strong> Jo-<br />

hann M. erfolgte die psychiatrische Begutachtung aufgr<strong>und</strong> vorliegender medizinischer Bescheide. Die<br />

781 StAB BB 15.4, Band 1845, Dossier 563, Schreiben des Verteidigers an die Kriminalkammer, 19. Januar 1908. Als der Verteidiger<br />

diesen Antrag auf eine Begutachtung stellte, befand sich das Strafverfahren bereits im Stadium der Überweisung, weshalb hier<br />

die Kriminalkammer als Adressatin des Schreibens fungiert.<br />

782 StAB BB 15.4, Band 1845, Dossier 563, Schreiben der Staatsanwaltschaft Mittelland an den Präsidenten der Kriminalkammer,<br />

20. Januar 1908.<br />

783 StAB, BB 15.4, Band 1972, Dossier 1209, Anklageakte gegen Christian R., 14. November 1913.<br />

784 StAB, BB 15.4, Band 1743, Dossier 9642, Beschluss des Untersuchungsrichters, o. D [1902], pag. 139 der Akten.<br />

785 PZM, KG 4086, Gutachten über Johann M., 3. Mai 1913.<br />

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