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Psychiatrie und Strafjustiz

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strafe zur Diskussion stand, Anlass zur Diskursivierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geboten<br />

hatten. 1362 Wie die untersuchten Parlamentsdebatten zeigen, liess sich dieser strafrechtskritische Diskurs<br />

auch im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nach wie vor aktualisieren. So lehnte etwa Seiler die Todesstrafe mit dem Hinweis<br />

auf die kaum je voll gegebene Verantwortlichkeit ab: «Mit dem tieferen Eindringen in die Ursachen des<br />

Verbrechens, mit der Zergliederung der Lebensverhältnisse, mit der Erforschung der oft recht weit zu-<br />

rückliegenden, aber doch bestehenden Zusammenhänge zwischen den Verhältnissen, in die ein Men-<br />

schenskind hinein versetzt worden ist <strong>und</strong> der schliesslichen Missetat, muss sich dem Psychologen – <strong>und</strong><br />

der Gesetzgeber muss auch Psychologe sein – mehr <strong>und</strong> mehr die Gewissheit aufdrängen, dass einzig<br />

verantwortlich der Täter wohl nie ist <strong>und</strong> dass es daher mit den Gr<strong>und</strong>sätzen einer vollen Gerechtigkeit<br />

nicht vereinbart werden kann, einem, wenn auch minderwertigen Gliede der menschlichen Gesellschaft<br />

kurzerhand den Lebensfaden abzuschneiden.» 1363 Seilers Votum zeigt, dass im Zusammenhang mit der<br />

Todesstrafe die Relativierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wie sie von Befürwortern einer Me-<br />

dikalisierung des Strafrechts seit langem vorgebracht worden waren, auch bei bürgerlichen Parlamenta-<br />

riern plötzlich an Gewicht gewinnen konnte. Der kriminalpolitische Gr<strong>und</strong>konsens, dass jeder «normale»<br />

Mensch gr<strong>und</strong>sätzlich für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden könne, erhielt dadurch<br />

feine Risse. Damit einher ging die Forderung nach einem verstärkten «Eindringen in die Ursachen des<br />

Verbrechens» <strong>und</strong> einer «Zergliederung der Lebensverhältnisse».<br />

Das Postulat, angesichts des potenziell zweifelhaften menschlichen Geisteszustands, auf die Todesstrafe<br />

zu verzichteten, schloss die Bereitschaft ein, psychiatrisch-medizinische Gesichtspunkte bei der Sankti-<br />

onsbemessung zu berücksichtigen. Konsequent zu Ende gedacht, hätte dies bedeutet, nicht nur bei to-<br />

deswürdigen Verbrechen, sondern in jedem Fall die Zurechnungsfähigkeit von StraftäterInnen in Frage zu<br />

stellen. Zu diesem Schritt konnten sich die bürgerlichen Gegner der Todesstrafe – im Gegensatz zu Sozi-<br />

aldemokrat Huber – indes nicht durchringen. Dennoch verbanden viele Parlamentarier aus dem Mitte-<br />

Links-Spektrum mit der Ablehnung der Todesstrafe die Anerkennung einer regulativen Kriminalpolitik.<br />

So wollte der sozialdemokratische Neuenburger Nationalrat Ernest-Paul Graber (1875–1956) den strafen-<br />

den Staat nicht auf eine Vergeltung um jeden Preis, sondern auf eine pragmatische Rolle festlegen: «Je vois<br />

l’Etat cherchant plutôt à prévenir le crime, à prévenir le mal, à corriger le coupable. Je vois l’Etat qui cher-<br />

che à préserver la société contre un danger. [...] Mais je ne vois pas à notre époque la Suisse, cette vieille<br />

démocratie, ériger l’Etat en bourreau.» 1364 Für eine Mehrheit aus Bürgerlichen <strong>und</strong> Sozialdemokraten war<br />

das künftige Strafrecht somit ein flexibles Mittel des Staates, Kriminalität zu bekämpfen <strong>und</strong> die öffentli-<br />

che Ordnung sicherzustellen. Das Strafgesetzbuch war in ihren Augen Ausdruck einer Kriminalpolitik, die<br />

diese Ziele mit differenzierten Mitteln erreichen sollte. Diese Mehrheit hielt einerseits am Prinzip des<br />

Schuldstrafrechts fest, andererseits befürwortete sie eine beschränkte Medikalisierung <strong>und</strong> Pädagogisie-<br />

rung des Strafrechts. Sie lehnte die Todesstrafe als unzweckmässige <strong>und</strong> ungerecht empf<strong>und</strong>ene Überstei-<br />

gerung der staatlichen Strafmacht ab.<br />

Die in den Entwurf des B<strong>und</strong>esrats übernommene Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> sichernden Massnah-<br />

men stiess denn auch vor allem bei der katholisch-konservativen Fraktion auf Widerstand. Der Konserva-<br />

tive Perrier anerkannte zwar gr<strong>und</strong>sätzlich die Berechtigung sichernder Massnahmen, die konkrete Aus-<br />

gestaltung des Entwurfs ging ihm hingegen zu weit: «Certes, plus que par le passé, il fallait voir le criminel<br />

lui-même, chercher son amendement, et aussi le mettre hors d’état de nuire. Mais il fallait garder la théorie<br />

juste de la prévention générale et se tenir ferme à la doctrine classique de l’expiation, de la ‹Vergeltung›,<br />

1362 Vgl. Kp. 2; Martschukat, 2000, 149-184.<br />

1363 Sten. Bull. NR, 1928, 104.<br />

1364 Sten. Bull. NR, 1928, 119.<br />

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