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Psychiatrie und Strafjustiz

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gelang es dabei, sich als politisch relevante pressure group zu konstituieren <strong>und</strong> zusammen mit andern Be-<br />

rufsgruppen massgeblich Einfluss auf die Strafrechtsreform zu nehmen. Das Interesse der Psychiater an<br />

strafrechtlichen Fragen ergab sich zum einen aus ihrer Tätigkeit als regelmässige Gerichtssachverständige.<br />

Wie ihre ausländischen Fachkollegen hatten die Schweizer Psychiater seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

nebst ihrer Kernrolle als Anstaltsärzte zunehmend eine Rolle als Sachverständige ausdifferenziert. Voraus-<br />

setzung für eine regelmässige Begutachtungstätigkeit war der Aufbau einer psychiatrischen Infrastruktur,<br />

die sowohl fachärztliche Begutachtungen, als auch die Durchführung von Verwahrungs- <strong>und</strong> Versor-<br />

gungsmassnahmen ermöglichte. Zum andern erhofften sich tonangebende Exponenten der Disziplin wie<br />

Auguste Forel von einem strafrechtlichen Engagement Impulse für die Konsolidierung <strong>und</strong> Profilierung<br />

der <strong>Psychiatrie</strong> als Wissenschaftsdisziplin. Die Forderung nach einer weitgehenden Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens wurde dabei Bestandteil eines szientistischen Sozialreformprojekts, das der Disziplin nicht nur<br />

eine Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs, sondern auch neue Legitimation bescheren sollte. Zumindest<br />

teilweise konvergierten die standespolitischen Interessen der Psychiater mit den Bestrebungen der Straf-<br />

rechtsreformer, die in einer Intensivierung der juristisch-psychiatrischen Zusammenarbeit eine Vorausset-<br />

zung zur Realisierung des neuen Massnahmenrechts sahen. Diese Interessenkonvergenz hatte zur Folge,<br />

dass sich in den 1890er Jahren im Umfeld der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht ein interdisziplinärer<br />

Diskussionszusammenhang herausbildete, innerhalb dessen sich das Leitbild einer arbeitsteiligen Krimina-<br />

litätsbewältigung zunehmend auf Akzeptanz stiess.<br />

Dieser interdisziplinäre Lern- <strong>und</strong> Annäherungsprozess, der das traditionelle Konfliktmuster des juristisch-<br />

medizinischen Grenzdisputs nach <strong>und</strong> nach ablösen sollte, verlief allerdings keineswegs gradlinig. Ver-<br />

kompliziert wurde er dadurch, dass die psychiatrische Kriminalpolitik unterschiedliche Stossrichtungen<br />

aufwies. Auf der einen Seite forderten Psychiater wie Forel oder Eugen Bleuler eine radikale Umgestaltung<br />

des Strafrechts zu einem medikalisierten «Schutzrecht» <strong>und</strong> stellten die Willenssemantik des bürgerlichen<br />

Strafdiskurses gr<strong>und</strong>legend in Frage. Eine pragmatischere Linie verfolgten demgegenüber die Interventionen<br />

des Vereins schweizerischer Irrenärzte, die darauf abzielten, die disziplinären Anliegen in justiziabler Form in<br />

den Reformprozess einzubringen. Dazu gehörten der Verzicht auf die Forderung nach der gänzlichen<br />

Preisgabe des Schuldstrafrechts <strong>und</strong> eine Beschränkung der Reformanliegen auf das materielle Strafrecht.<br />

Im Gegenzug erlaubte die vorgesehene Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen den Psychiatern,<br />

ihre Forderung nach einer Integration medizinischer Versorgungs- <strong>und</strong> Verwahrungskonzepte ins Strafrecht<br />

einzubringen. Die Analyse der Reformpostulate der Schweizer Irrenärzte zeigt, dass diese nur bedingt ei-<br />

nem psychiatrischen Expansionismus zuzurechnen sind. Entgegen der Befürchtungen traditionalistischer<br />

Juristen versprachen sich die Psychiater von einer medizinischen Definition der Zurechnungsfähigkeit<br />

weniger eine Ausweitung ihres Kompetenzbereichs als eine Vereinfachung der Begutachtungspraxis. In<br />

erster Linie ging es ihnen darum, vor Gericht nicht mehr zu dem in naturwissenschaftlicher Hinsicht<br />

problematisch erscheinenden Begriff der «Willensfreiheit» Stellung nehmen zu müssen. Im Bereich des<br />

Massnahmenrechts gingen die Forderungen der Psychiater im freilich über die in vielen Kantonen gelten-<br />

den verwaltungsrechtlichen Verwahrungsbestimmungen hinaus.<br />

Die Interpretation der psychiatrischen Kriminalpolitik, wie sie im Rahmen dieser Untersuchung vorgelegt<br />

worden ist, legt es nahe die Erklärungskraft eines auf Expansion des disziplinären Gegenstandsbereichs<br />

angelegten professional project (Margalie Sarfatti-Larson) zu relativieren. Es zeigt sich, dass zwischen dem<br />

programmatischen Utopismus eines Forels oder Bleulers <strong>und</strong> der Kriminalpolitik der psychiatrischen<br />

Standesorganisation beträchtliche Lücken klafften. Die Interventionen der Irrenärzte im Rahmen der<br />

Strafrechtsreform waren weniger von einem kriminalpolitischen Maximalismus als von der Bereitschaft<br />

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