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Psychiatrie und Strafjustiz

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Bezugssystems bedeutet hätte, können die diesbezüglichen Forderungen streng genommen nicht einmal<br />

als Medikalisierungsbestrebungen bezeichnet werden. Die Zurechnungsfähigkeitsdebatte ist deshalb vor<br />

allem als eine Stellvertreterdebatte zu betrachten, in der psychiatrische Vorbehalte gegenüber der juristi-<br />

schen Willenssemantik <strong>und</strong> juristische Befürchtungen vor einer Preisgabe des Schuldstrafrechts aufeinan-<br />

der prallten. Wie Leo Weber (1841–1935), der Sekretär des Eidgenössischen Justizdepartements, wohl zu<br />

Recht feststellte, war die von den Verteidigern des klassischen Schuldstrafrechts vertretene Interpretation<br />

der Debatte als Kompetenzkonflikt primär Ausdruck eines allgemeinen Misstrauens gegen eine (radikale)<br />

psychiatrische Kriminalpolitik <strong>und</strong> die Bereitschaft der Strafrechtsreformer, auf die Forderungen der Ir-<br />

renärzte einzugehen. 551<br />

Die hier vertretene Auffassung, wonach es sich bei der Zurechnungsfähigkeitsdebatte in erster Linie um<br />

ein Aushandeln von Zusammenarbeitsmodalitäten gehandelt hat, wird durch den Umstand erhärtet, dass<br />

die Schweizer Psychiater zur gleichen Zeit, jedoch auf der Ebenen der kantonalen Strafprozessrechte sehr<br />

wohl für eine Ausweitung ihrer Sachverständigenkompetenzen eintraten. Dies belegen etwa die erwähnten<br />

Forderungen Forels oder Franks. Von einem taktisch motivierten Stillschweigen in Bezug auf Kompetenzforderungen<br />

kann demnach keine Rede sein. Von Speyrs Ausführungen in Chur zeigen vielmehr, dass<br />

sich die führenden Schweizer Psychiater bewusst waren, dass sich allfällige Kompetenzausweitungen nur<br />

auf dem Gebiet des kantonalen Strafprozessrechts, nicht aber im Bereich des materiellen Einheitsstraf-<br />

rechts erreichen liessen. 552 Die Beschränkung der Strafrechtseinheit auf das materielle Strafrecht verun-<br />

möglichte den Psychiatern letztlich, die im Strafprozess zu regelnde Kompetenzfrage auf B<strong>und</strong>esebene zur<br />

Sprache zu bringen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die Verankerung der (prozessualen)<br />

Pflicht zur Begutachtung zweifelhafter Geisteszuständen im materiellen Strafrecht gerade nicht von psy-<br />

chiatrischer Seite, sondern von Mitgliedern der Expertenkommission vorgeschlagen wurde.<br />

Der lange Weg zum Kompromiss<br />

In der Expertenkommission von 1893 hatten die Gegner der medizinischen Definition keine Chance, so<br />

dass Artikel 11 des bereinigten Vorentwurfs von 1896 die von den Irrenärzten <strong>und</strong> Stooss ausgehandelte<br />

Definition übernahm. 553 Kurz nach Erscheinen des bereinigten Entwurfs unternahm Gretener einen ers-<br />

ten Vermittlungsversuch zwischen den beiden Auffassungen, indem er in Anlehnung an den russischen<br />

Strafgesetzentwurf von 1895 eine gemischte Definition vorschlug, die psychologische wie medizinische<br />

Elemente berücksichtigte. Gemäss dieser Definition wären StraftäterInnen dann als unzurechnungsfähig<br />

anzusehen gewesen, wenn sie aufgr<strong>und</strong> medizinisch definierter Zustände nicht im Stande waren, nach den<br />

psychologischen Kriterien der Strafreinsicht <strong>und</strong> der Willensfreiheit zu handeln. Den medizinischen Sach-<br />

verständigen wäre demnach die Aufgabe oblegen, eine Kausalbeziehung herzustellen zwischen psychi-<br />

schen Störungen <strong>und</strong> der Fähigkeit, die Strafbarkeit einer Tat einzusehen oder das eigene Handeln zu<br />

steuern. 554 Auch Stooss zeigte sich bereit, seinen Gegnern entgegenzukommen, wenn auch nicht im Rah-<br />

men des von Gretener vorgeschlagenen Kompromisses. Anlässlich der Beratungen der Expertenkommis-<br />

sion von 1903 schlug er vor, die medizinische gänzlich durch eine psychologische Definition zu ersetzen.<br />

Stooss versprach sich davon zum einen eine Angleichung an die Bestimmungen über die Handlungsfähig-<br />

keit im gleichzeitige beratenen Zivilgesetzbuch. Dies, nachdem Eugen Huber 1896 gegenüber den<br />

Schweizer Irrenärzten eine medizinische Umschreibung der zivilrechtlichen Handlungsfähigkeit als «juris-<br />

551 Expertenkommission, 1893 I, 70.<br />

552 Speyr, 1894, 184.<br />

553 VE 1896, Art. 11.<br />

554 Gretener, 1897, 35-38.<br />

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