13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

fehlten es die Schweizer Psychiater, als es nach 1910 darum ging, die geplante Strafrechtsreform in die<br />

Praxis umzusetzen, eine kohärente Strategie zu formulieren <strong>und</strong> die für eine institutionelle Ausdifferenzie-<br />

rung nötigen Ressourcen zu mobilisieren.<br />

Im Zuge der tendenziellen Demedikalisierung des Massnahmenvollzugs setzte sich gegenüber dem Gros<br />

der «abnormen» StraftäterInnen ein zunehmender therapeutischer Nihilismus durch. Dadurch gewannen<br />

Selektionsverfahren, die zwischen «heilbaren» <strong>und</strong> «unheilbaren» DelinquentInnen unterschiedene eine<br />

wachsende Bedeutung. Eröffnete das neue Massnahmenrecht einer vergleichsweise kleinen Minderheit<br />

psychotischer oder neurotischer DelinquentInnen Zugang zu psychiatrischen Behandlungsangeboten, so<br />

setzten die Psychiater alles daran, die Mehrheit der als «unheilbare PsychopathInnen» stigmatisierte Delin-<br />

quentInnen in nicht ärztlich geleitete Arbeitserziehungs- <strong>und</strong> Strafanstalten abzuschieben. Bestrebungen<br />

seitens der <strong>Psychiatrie</strong> für eine forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens beschränkten sich denn<br />

auch auf den Kampf um die ambulante Behandlung. Für eine grosse Zahl von DelinquentInnen bedeutete<br />

dies, dass sie zwar durch eine psychiatrische Diagnose stigmatisiert wurden, jedoch im Gegenzug keinen<br />

Zugang zu spezialisierten Behandlungsangeboten erhielten. Das Fallbeispiel des Kantons Bern sowie die<br />

zitierten Entscheide des B<strong>und</strong>esgerichts zeigen, dass der – auch in der Schweiz feststellbaren – Trend zu<br />

einer «repressiven Kriminalpsychiatrie» (Tilman Moser) in den 1940er <strong>und</strong> 1950er Jahren von einem brei-<br />

ten Konsens getragen wurde, der in strafrechtlichen Sanktionen wieder primär den Zweck des Strafens <strong>und</strong><br />

weniger des Heilens sah. Dieser Trend, der sich bereits in der Strafrechtsdebatte der Zwischenkriegszeit<br />

abgezeichnet hatte, sollte erst Ende der 1960er Jahre durchbrochen werden.<br />

11.3 Ansätze zur wissenschaftlichen Spezialisierung: Die Psychiater Benno Dukor, Jakob<br />

Wyrsch <strong>und</strong> Hans Binder<br />

Mit der Ablehnung der Vorschläge Briners begrub die psychiatrische scientific community die Option für eine<br />

umfassende institutionelle Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong>. Als sich die Schweizer Illustrierte<br />

im Juli 1953 des Themas «Geisteskrankheit <strong>und</strong> Verbrechen» annahm, herrschte unter den befragten Psy-<br />

chiatern, Juristen <strong>und</strong> Strafvollzugsbeamten nach wie vor keine Einigung über den Vollzug sichernder<br />

Massnahmen an «verbrecherischen Psychopathen». 1543 Ebenfalls kaum auf Resonanz stiess innerhalb der<br />

Disziplin ein 1943 gemachter Vorschlag, nach deutschem Vorbild eine kriminalbiologische Kartothek<br />

anzulegen, welche die begutachteten Straftäter aus der ganzen Schweiz erfassen sollte. 1544 Wie in diesem<br />

<strong>und</strong> im nächsten Unterkapitel gezeigt werden soll, bedeutete der Verzicht der scientific community auf die<br />

Option einer institutionellen Ausdifferenzierung indes keineswegs eine vollständige Absage an Spezialisie-<br />

rungstendenzen im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong>. Vielmehr lassen sich in verschiedenen Bereichen<br />

Spezialisierungs- <strong>und</strong> Ausdifferenzierungsansätze ausmachen, die in den institutionellen Rahmen der An-<br />

staltspsychiatrie integriert blieben <strong>und</strong> wesentliche Impulse durch das Engagement einzelner Psychiater<br />

erhielten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchten sich in der Schweiz namentlich die drei Psychia-<br />

ter Benno Dukor, Jakob Wyrsch <strong>und</strong> Hans Binder im Bereich der Forensik zu profilieren. Diese drei Ex-<br />

ponenten der psychiatrischen Disziplin waren nicht nur in mehreren Kantonen als regelmässige Gerichts-<br />

gutachter tätig, sondern strebten darüber hinaus auch eine Systematisierung des forensisch-psychiatrischen<br />

Wissens mittels spezifischer Forschungs- <strong>und</strong> Vermittlungsleistungen sowie methodischer Gr<strong>und</strong>lagenre-<br />

flexionen an. Sie versuchten der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> in der Schweiz erstmals ein wissenschaftliches<br />

Profil zu geben, das über die eigentliche Begutachtungspraxis hinausging. Wie bereits erwähnt, beteiligten<br />

sie sich ebenfalls intensiv an den kriminalpolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Disziplin. Für<br />

1543 Schweizer Illustrierte, 6. Juli 1953, 9-11.<br />

1544 Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Wohlfahrt, 23, 1943, 217<br />

374

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!