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Psychiatrie und Strafjustiz

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Veranlagung; denn unzählige, von Haus aus gut veranlagte, ethisch vollwertige Kinder überstehen ähnli-<br />

che Einflüsse, ohne solchen Schaden zu nehmen.» Das Gutachten befand deshalb «Willensfreiheit» <strong>und</strong><br />

Zurechnungsfähigkeit von Paul C. als gemindert. 1010<br />

Exemplarisch verdeutlich der Fall von Paul C. die normative Fixierung des Psychopathiekonzepts, dessen<br />

diskursive Matrix die Berner Psychiater bei ihrer Begutachtungstätigkeit mit grosser Regelmässigkeit re-<br />

produzierten. Bürgerliche Normen wie Rechtschaffenheit, Ernsthaftigkeit, Zielstrebigkeit, Selbständigkeit<br />

<strong>und</strong> eine auf Erwerb <strong>und</strong> Ehe ausgerichtete Lebensführung gaben im Fall von Paul C. den normativen<br />

Bezugspunkt ab, an dem die Sachverständigen das Verhalten des jungen Mannes massen. Die diskursive<br />

Matrix des Psychopathiekonzepts erlaubte im Gegenzug, Abweichungen von solchen normativen Verhal-<br />

tensidealen in psychopathologische Sinnzusammenhänge zu stellen, welche die soziokulturelle Konditio-<br />

nierung von Erwartungshaltungen <strong>und</strong> Verhaltensnormen, wie sie sich etwa im Quellenbegriff der «sittli-<br />

chen Selbstführung» verdichteten, zum Verschwinden brachten.<br />

7.5.4 Exkurs: Die Thematisierung von «Sexualität» in der forensisch-psychiatrischen Begut-<br />

achtungspraxis<br />

Bevor die Ergebnisse der vorangegangenen Unterkapitel kurz rekapituliert werden, soll in diesem Exkurs<br />

ein weiterer Aspekt der psychiatrischen Sinnstiftung im Zusammenhang mit abweichendem <strong>und</strong> kriminel-<br />

lem Verhalten untersucht werden. Sexualdelikte spielten in der forensisch-psychiatrischen Praxis spätes-<br />

tens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine besondere Rolle. So hiess es etwa in der einschlägi-<br />

gen Psychopathia sexualis Krafft-Ebings: «Auf keinem Gebiet des Strafrechts ist ein Zusammenarbeiten von<br />

Richter <strong>und</strong> medizinischen Experten so geboten, wie bei den sexuellen Delikten [...].» 1011 1927 stellte der<br />

Zürcher Psychiater Charlot Strasser (1884–1950) eine deutlich überproportionale Begutachtung von Sexu-<br />

aldelinquenten fest. Gleichzeitig forderte er, dass Sexualdelinquenten «so oft wie möglich der Begutach-<br />

tung zugeführt werden» sollen. 1012 Wie in Kapitel 6.3 festgestellt worden ist, lässt sich auch für die foren-<br />

sisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920 eine leichte Prävalenz von Begutach-<br />

tungen bei Sexualdelikten feststellen. Knapp ein Sechstel aller Begutachtungsfälle betrafen Sexualdelikte.<br />

1013 Der besondere Fokus auf Sexualdelikte scheint sich aber auch in historischen Darstellungen nieder-<br />

zuschlagen. So postuliert etwa eine jüngere Arbeit, was die psychiatrischen Deutungsmuster anbelangt,<br />

eine «Sonderposition des Sexualdelikts» innerhalb der Forensik um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende. 1014<br />

Zumindest in einem Punkt unterschieden sich Sexualdelikte tatsächlich von andern Gruppen von Delik-<br />

ten: sie wurden ausnahmslos von Männern begangen <strong>und</strong> hatten damit ein eindeutiges (soziales) Ge-<br />

schlecht. 1015 Wenn von Sexualdelikten in der forensisch-psychiatrischen Praxis die Rede ist, muss sich<br />

deshalb zwangsläufig die Frage nach der psychiatrischen Interpretation männlichen Sexualverhaltens stel-<br />

len, also nach jenen Diskursen, die männliche «Sexualität» als sprachliches Ereignis hervorbrachten. 1016<br />

Dies heisst aber im Gegenzug nicht, dass «Sexualität» von straffällig gewordenen Frauen in der forensisch-<br />

psychiatrischen Praxis der Jahrh<strong>und</strong>ertwende keine Rolle gespielt hätte. 1017 Sexuelle Praktiken <strong>und</strong> Körper-<br />

funktionen von Männern <strong>und</strong> Frauen wurden in der gerichtspsychiatrischen Praxis vielmehr in unter-<br />

1010 StAB BB 15.4, Band 2072, Dossier 1735, Psychiatrisches Gutachten über Paul C., 16. Januar 1918.<br />

1011 Krafft-Ebing, 1907, 368.<br />

1012 Strasser, 1927, 125, 171.<br />

1013 Vgl. Kp. 6.3.<br />

1014 Lukas/Wernz/Lederer, 1994, 177. Vgl. Lenk/Kaever, 1997; Vigarello, 1998; Möller, 1997; Tatar, 1995; Pozsár/Farin, 1994.<br />

1015 Vgl. Hommen, 1999.<br />

1016 Das Setzen des Begriffs «Sexualität» in Anführungs- <strong>und</strong> Schlusszeichen soll deutlich machen, dass es sich bei «Sexualität» um<br />

ein diskursives Ereignis handelt, das disparate Praktiken <strong>und</strong> Körperfunktionen unter einem Singular zusammenfasst.<br />

1017 Im Folgenden nicht berücksichtigt werden die Gutachten über weibliche Opfer von Sexualdelikten.<br />

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