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Psychiatrie und Strafjustiz

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werden kann, respektive ob die Zunahme der psychiatrischen Gutachten als Folge eines solchen Speziali-<br />

sierungsprozesses interpretiert werden muss.<br />

Die Gerichtsgutachten von praktizierenden Ärzten lassen sich nur mittels Stichproben in den Gerichts-<br />

protokollen eruieren. 1893 wurden vor den Geschworenen von insgesamt sechs Gutachten vier von Psy-<br />

chiatern <strong>und</strong> zwei von praktizierenden Ärzten erstellt (33,3%). 1903 erstatteten lediglich ein nicht speziali-<br />

sierter Arzt ein Gutachten (11%). 1908 wurden von 22 Gutachten 18 von Psychiatern <strong>und</strong> vier von an-<br />

dern Ärzten, davon zwei durch Gerichtsmediziner der Universität, erstellt (18,2%). 1913 <strong>und</strong> 1918 wurde<br />

jeweils nur ein Gutachten von Allgemeinärzten abgegeben (16,7%, respektive 7,7%). 733 Bereits in den<br />

1890er Jahren bildeten somit Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit, die von praktizierenden Ärzten<br />

abgegeben wurden, eher eine Ausnahme. Gleichzeitig kamen aber nicht spezialisierte Ärzte in der ganzen<br />

Untersuchungsperiode als Gutachter zum Zug, wenngleich in einer geringen Zahl. Mit der allgemeinen<br />

Zunahme der Begutachtungen nahm der Anteil solcher Gutachten aber tendenziell ab. Von einem statis-<br />

tisch signifikanten Verdrängungs- <strong>und</strong> Monopolisierungsprozess kann deshalb nicht ausgegangen werden.<br />

Vielmehr war die psychiatrische Begutachtung bereits in den 1890er Jahren im Kanton Bern ein spezialisiertes<br />

Tätigkeitsfeld, in dem vorweg die Ärzte der damals noch einzigen kantonalen Irrenanstalt zum<br />

Einsatz gelangten. Darin unterschied sich der Kanton Bern deutlich von kleineren Landkantonen, wo bis<br />

weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert Allgemeinmediziner <strong>und</strong> vereinzelt sogar Geistliche Begutachtungen des Geistes-<br />

zustands vornahmen. 734 Als Beispiel für die Anerkennung der psychiatrischen Fachkompetenzen durch die<br />

Justizbehörden kann der Prozess gegen Jean-Jacques K. angeführt werden, der 1908 wegen versuchter<br />

Vergewaltigung vor den Geschworenen stand. Gemäss der Forderung des Verteidigers beauftragte das<br />

Gericht zunächst den anwesenden Arzt, der die Untersuchung des Opfers vorgenommen hatte <strong>und</strong> den<br />

Angeklagten aus seiner Praxis persönlich kannte, mit der Untersuchung des Geisteszustands. Aufgr<strong>und</strong><br />

dessen Aussage überwies das Gericht Jean-Jacques K. daraufhin zur Begutachtung nach Bellelay. In die-<br />

sem Fall überwog für das Gericht die Möglichkeit einer längeren fachärztlichen Begutachtung in einer<br />

Irrenanstalt den Vorteil der Vertrautheit des praktizierenden Landarztes mit dem Angeklagten. 735<br />

6.2 Die Entwicklung der gestellten Diagnosen<br />

Anhand der in den Berner Gutachten gestellten Diagnosen lässt sich die Aneignung der im Anschluss an<br />

die Degenerationstheorie entstandenen psychiatrischen Deutungsmuster kriminellen Verhaltens in der<br />

Justizpraxis über einen längeren Zeitraum nachvollziehen. Wie bereits ausgeführt worden ist, führten diese<br />

Aneignungsprozesse zur Konzeptualisierung eines Übergangsbereichs zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krank-<br />

heit. Damit verb<strong>und</strong>en war eine nachhaltige Veränderung der juristisch-psychiatrischen Normalitätsdispo-<br />

sitive. Was die Berner <strong>Psychiatrie</strong> betrifft, ist in diesem Zusammenhang vor allem die Entwicklung der<br />

Störungen von Interesse, die in den Jahresberichten der Irrenanstalten unter der Diagnosegruppe der<br />

«konstitutionellen Störungen» zusammengefasst wurden. Um Entwicklungen in der Diagnosenstellung<br />

aufzeigen zu können, werden in diesem Unterkapitel die Diagnosen der in den Jahresberichten registrier-<br />

ten Gutachten aus vier zeitlich versetzten Fünfjahresperioden analysiert. Als Analysekategorien dienen<br />

diejenigen Krankheitsklassifikationen, die von den Berner Irrenanstalt im Untersuchungszeitraum selbst<br />

verwendet wurden <strong>und</strong> in Kapitel 5.3 kurz erläutert worden sind. Im Vordergr<strong>und</strong> steht dabei die Ent-<br />

wicklung von drei Diagnosegruppen. Die Gruppe der «angeborenen Störungen» umfasste ein breites<br />

Spektrum von Intelligenzminderungen, die von schwerer geistiger «Idiotie» bis zu leichtem «Schwachsinn»<br />

733 StAB BB 15.4, Bände 80b-80c, 87, 94-95, 104-105, 114-115, 124-125.<br />

734 Geschwend, 1996, 475-476.<br />

735 StAB BB 15.4, Band 105, Verhandlung der Assisen, 6. Juli 1908.<br />

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