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Psychiatrie und Strafjustiz

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wohl eine (verkürzte) Strafe, als auch eine Massnahme auszusprechen hatte. Im Fall, dass die Massnahme<br />

vor Ablauf der Strafdauer aufgehoben wurde, war demnach noch eine Reststrafe zu vollziehen. 585<br />

Der Vorentwurf von 1908 überliess den Entscheid, ob diese Reststrafe noch zu vollziehen sei, dann ganz<br />

dem richterlichen Ermessen. 586 Zu einer erneuten Auseinandersetzung über die Priorität von Strafe <strong>und</strong><br />

Massnahme kam es in der zweiten Expertenkommission. Während der Reformer Gautier die vorgesehe-<br />

nen sichernden Massnahmen gegen geistesgestörte StraftäterInnen ohne Umstand als «excellent moyen de<br />

défense sociale» feierte, kritisierte Thormann erneut die Gleichbehandlung von Unzurechnungsfähigen<br />

<strong>und</strong> vermindert Zurechnungsfähigen. Obwohl Thormann die gr<strong>und</strong>sätzliche Berechtigung von Massnah-<br />

men gegen vermindert Zurechnungsfähige anerkannte, verlangte er, dass an den diesen zuerst die reguläre<br />

Strafe <strong>und</strong> erst danach eine allfällige Massnahme zu vollziehen sei. 587 In gleicher Weise verlangte er die<br />

Priorität der Strafe vor der Einweisung in eine Trinkerheilanstalt. 588 Die Kommissionsmehrheit war indes<br />

nicht bereit, hinsichtlich der vermindert Zurechnungsfähigen an der Fassung von 1908 zu rütteln. Bezüg-<br />

lich der Trinkerheilanstalt gab sich dagegen Thormanns Antrag statt <strong>und</strong> räumte schliesslich der Strafe<br />

Priorität vor der Massnahme ein. 589<br />

Die Kontroverse um die strafrechtliche Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen war in erster<br />

Linie eine juristische Angelegenheit. Ein Vergleich mit den psychiatrischen Interventionen in der Zurech-<br />

nungsfähigkeitsdebatte verdeutlicht die Zurückhaltung der Schweizer Irrenärzte in Auseinandersetzungen<br />

um sichernde Massnahmen. Zweifellos erübrigte die weitreichende Akzeptanz sichernder Massnahmen<br />

gegen geistesgestörte StraftäterInnen weitere Interventionen der Standesorganisation. 590 So erinnerten die<br />

Schweizer Irrenärzte 1911 in einer Eingabe an das Justizdepartement lediglich beiläufig an ihre ursprüngli-<br />

che Forderung, dass auch eine Versorgung vom Gericht <strong>und</strong> nicht von der Verwaltungsbehörde angeord-<br />

net werden sollte, ein Anliegen, das im Vorentwurf von 1916 Berücksichtigung fand. 591 Bei dieser Gele-<br />

genheit brachten die Irrenärzte zugleich ihre gr<strong>und</strong>sätzliche Befriedigung über den Fortschritt des Vor-<br />

entwurfs von 1908 «in Bezug auf die kriminalanthropologische <strong>und</strong> speziell die psychologische Betrach-<br />

tung <strong>und</strong> Behandlung des Verbrechers» zum Ausdruck. Dementsprechend euphorisch begrüssten sie als<br />

einen weiteren Kernbestandteil der Strafrechtsreform die vorgesehene Verwahrung von «Gewohnheits-<br />

verbrechern». 592 Auch sonst verfolgten die Irrenärzte die Verankerung des 1893 geforderten Massnahmen-<br />

systems mit sichtlicher Genugtuung. So meinte Maier 1909: «Das Wichtigste dieser vier Postulate [von<br />

1893] ist in dem bisherigen Entwurf des Strafgesetzes verwirklicht; wir Psychiater freuen uns darüber, wie<br />

auch über die neuen weiteren Gesichtspunkte auf dem Gebiet der sichernden <strong>und</strong> vorsorglichen Mass-<br />

nahmen [...]. Wenn wir auch an manchen Orten gerne einen noch radikaleren Fortschritt gesehen hätten,<br />

so verstehen wir doch, dass zurzeit nicht mehr erstrebt werden kann, ohne das ganze, gewiss segensreiche<br />

Werk zu gefährden.» 593 Vier Jahre später zeigte sich Maier ausserordentlich zufrieden, dass die Experten-<br />

kommission im Fall der vermindert Zurechnungsfähigen auf dem Primat der Massnahme vor der Strafe<br />

585 VE 1896, Artikel 13; Rusca, 1981, 124-129. Als einer der wenigen Schweizer Juristen forderte Hafter, 1904/05, eine vollständige<br />

Trennung von Straf- <strong>und</strong> Massnahmenrecht <strong>und</strong> wollte – in Anlehnung an von Liszt – die Anordnung sichernder Massnahmen<br />

dem Vorm<strong>und</strong>schaftsrichter übertragen.<br />

586 VE 1908, Artikel 18; Rusca, 1981, 130.<br />

587 Expertenkommission, 1912 I, 138f. (Voten Gautier <strong>und</strong> Thromann).<br />

588 Rusca, 1981, 143f.<br />

589 VE 1916, Artikel 16; Rusca, 1981, 131f., 143f.<br />

590 Maier, 1909, 303; Ladame, 1910, 329.<br />

591 BAR E 4110 (A) -/42, Band 51, Eingabe des Vereins der Schweizer Irrenärzte an das EJPD, 27. November 1911; VE 1916,<br />

Art. 15; Maier, 1913a, 300; Maier, 1918.<br />

592 BAR E 4110 (A) -/42, Band 51, Eingabe des Vereins der Schweizer Irrenärzte an das EJPD, 27. November 1911.<br />

593 Maier, 1909, 303f.<br />

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