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Psychiatrie und Strafjustiz

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streng moralisierende Sichtweise auf den Konsum von Sucht- <strong>und</strong> Genussmittel mit der Furcht vor einer<br />

strafrechtlichen Laxheit, welche die individuelle Verantwortlichkeit unterminieren würde. Seine Bedenken<br />

fanden insofern eine Mehrheit, als der Nationalrat beschloss, die Regelung des Militärstrafgesetzbuchs<br />

über die fahrlässige Trunkenheit ins bürgerliche Strafgesetzbuch aufzunehmen. 1380<br />

Die vollständige Übernahme der Bestimmungen über die Trunkenheitsdelikte aus dem Militärstrafgesetz-<br />

buch fiel im Ständerat auf Zustimmung. Ständerat Suter schlug zusätzlich eine Ausweitung der libera actio<br />

in causa auf die verminderte Zurechnungsfähigkeit vor. Ihm ging es zu weit, dass selbstverschuldete leichte<br />

Bewusstseinsbeeinträchtigungen obligatorisch Strafmilderungen nach sich ziehen sollten. Suter verband<br />

seinen Antrag im Rat mit einer heftigen <strong>Psychiatrie</strong>kritik: «Sodann möchte ich nicht wegen jedes geringfü-<br />

gigen geistigen Mangels, wegen jeder nebensächlichen Bewusstseinsstörung, auch wenn die Herren Psy-<br />

chiater, die bekanntlich in diesem Punkt sehr weit gehen, glauben, eine solche feststellen zu müssen, die<br />

Strafmilderung obligatorisch eintreten lassen. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass geringfügige Bewusst-<br />

seinsstörungen <strong>und</strong> geistige Mängel ebenso richtig <strong>und</strong> ebenso gut innert dem ordentlichen Strafrahmen<br />

berücksichtigt werden können.» 1381 Nach Hoppeler verlangte Suter somit eine nochmalige Verfeinerung<br />

der Schuldlehre, wodurch eine laxe Exkulpationspraxis verhindert werden sollte. Die Räte kamen seiner<br />

Forderung schliesslich nach <strong>und</strong> stimmten einer Ausweitung der actio libera in causa auf die verminderte<br />

Zurechnungsfähigkeit zu. 1382<br />

Im Gegensatz zum Streit um die Definition der Zurechnungsfähigkeit in den 1890er Jahren fand diese<br />

Debatte um die actio libera in causa weniger unter Experten als unter Politikern statt. Sie artikulierte ein<br />

verbreitetes Unbehagen gegenüber einer für zu lax bef<strong>und</strong>enen Exkulpationspraxis, für die zu einem Teil<br />

die <strong>Psychiatrie</strong> verantwortlich gemacht wurde. Kritisiert wurde, dass fahrlässig herbeigeführter Alkohol-<br />

<strong>und</strong> Drogenrausch mit eigentlichen Geisteskrankheiten auf eine Ebene gestellt würde, so dass beide in den<br />

Genuss einer Exkulpation oder einer Strafmilderung gelangten. Ins Visier dieses moralisierenden Krimina-<br />

litätsdiskurses, der die Frage der juristisch wenig relevanten, aber umso symbolträchtigeren Alkoholdelikte<br />

aufgriff, geriet dadurch ebenfalls die Medikalisierung des Alkohol- <strong>und</strong> Drogenkonsums, wie sie von vie-<br />

len Schweizer Psychiatern seit den 1880er Jahren betrieben wurde. 1383<br />

Primat von Strafe oder Massnahme? – Die Behandlung der Trunksüchtigen<br />

Seit den 1890er Jahren hatten die Schweizer Psychiater die Einweisung von «Gewohnheitstrinkern» in<br />

spezielle Heilanstalten gefordert. Nach ihrer Ansicht sollte Trunksucht nicht mehr als Laster, sondern als<br />

Krankheit betrachtet werden. Die Behandlung der Trunksüchtigen durch Gewöhnung an Abstinenz hatte<br />

dementsprechend in einem medizinischen Rahmen stattzufinden. Bereits 1888 eröffnete Forel eine erste<br />

Trinkerheilanstalt in Ellikon. Drei Jahre später erliess St. Gallen als erster Kanton auf Betreiben Forels ein<br />

Gesetz zur Versorgung von Gewohnheitstrinkern. Ganz im Sinne des Leitbilds einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung<br />

kam der Strafgesetzentwurf von 1893 den Forderungen der Psychiater ebenfalls<br />

entgegen <strong>und</strong> sah die Einweisung von kriminell gewordenen Trunksüchtigen in spezielle Heilanstalten<br />

vor. 1384 Um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende herrschte auch unter Juristen ein weitgehender Konsens darüber, dass<br />

kriminell gewordene Trunksüchtige zwangsweise behandelt werden sollten. Umstritten blieb hingegen, ob<br />

1380 Sten. Bull. NR, 1928, 85.<br />

1381 Sten. Bull. SR, 1931, 138.<br />

1382 Sten. Bull. SR, 1931, 255; Sten. Bull. NR, 1933, 822.<br />

1383 Vgl. Tanner, 1999; Germann, 1997.<br />

1384 VE 1893, 58f.; Germann, 1997, 144-147.<br />

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