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Psychiatrie und Strafjustiz

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für die meisten DelinquentInnen jedoch nicht, dass sie aus der Untersuchungshaft entlassen wurden.<br />

Vielmehr sahen sie sich einem neuen institutionellen Zugriff durch einen psychiatrischen Massnahmen-<br />

vollzug ausgesetzt. 1070<br />

Verfahrenseinstellungen sind im untersuchten Fallsample durch jene Fallbeispiele dokumentiert, die in den<br />

Archiven der psychiatrischen Kliniken eruiert worden sind. Verschiedene Krankenakten enthalten denn<br />

auch Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden, dass das betreffende Strafverfahren aufgr<strong>und</strong> des Gut-<br />

achtens eingestellt wurde. 1071 Nicht ersichtlich werden dabei aber die Gründe, welche die Justizbehörden<br />

zu diesen Entscheidungen bewogen. Im Rückblick erscheinen solche Entscheidungsprozesse deshalb als<br />

eine Art black box, wobei sich die handlungsleitenden Motive lediglich aus den Handlungsergebnissen de-<br />

duzieren lassen. So lässt sich aus einer Verfahrenseinstellung ableiten, dass den zuständigen Justizbehör-<br />

den die Schlussfolgerungen der psychiatrischen Sachverständigen weitgehend plausibel erschienen. Dieser<br />

Konsens konnte sich einerseits auf die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit beziehen. In diesem Fall<br />

gingen die Untersuchungsbehörden davon aus, dass das zuständige Gericht den Angeschuldigten in jedem<br />

Fall mangels Schuldfähigkeit freisprechen würde. Andererseits konnten die Justizbehörden aufgr<strong>und</strong> des<br />

Gutachtens zum Schluss gelangen, dass sich aufgr<strong>und</strong> des Geisteszustands der Angeschuldigten gar keine<br />

Gerichtsverhandlung durchführen liess. In solchen Fällen galt es zu verhindern, dass geistesgestörte De-<br />

linquentInnen aus der Irrenanstalt in die Untersuchungshaft zurückversetzt wurden. Bezeichnenderweise<br />

dienten gerade solche Fälle, wo die Verhandlungsfähigkeit der Angeschuldigten zweifelhaft war, der An-<br />

klagekammer 1902 dazu, ihre Kompetenz zur Verfahrenseinstellung im Grossen Rat zu verteidigen. 1072<br />

Verfahrenseinstellungen betrafen somit in der Regel Fälle, wo sich die Unzurechnungsfähigkeit der Ange-<br />

schuldigten in den Augen der Justiz eindeutig aus den psychiatrischen Gutachten ergab. In diese Fallkate-<br />

gorie gehörten beispielsweise der an «Dementia praecox» leidende Friedrich H., der als «verrückt» be-<br />

zeichnete Jakob R. oder der «schwere Psychopath» Fritz R. Solche Beispiele zeigen ein Fallmuster, in dem<br />

eine ausgesprochene Konvergenz zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> psychiatrischen Sachverständigen zum<br />

Ausdruck kommt. Die im Rahmen dieser Untersuchung analysierten Fallbeispielen zeigen, dass solche<br />

«eindeutige» Fälle überwiegend DelinquentInnen betrafen, bei denen die Sachverständigen Geistesstörun-<br />

gen wie «Dementia praecox» oder hochgradigen «Schwachsinn» festgestellt hatten. «Harte» Diagnosen, mit<br />

denen sich eine Verneinung der Zurechnungsfähigkeit plausibel begründen liess, trugen demnach massgeblich<br />

dazu bei, dass die Justizbehörden die Durchführung einer Hauptverhandlung gar nicht erst in<br />

Betracht zogen.<br />

Für die betroffenen DelinquentInnen hatten solche Konvergenzen zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> psychiat-<br />

rischen Experten oft einschneidende Konsequenzen. Im Gegensatz zu Verfahren, die vor ein Gericht<br />

gelangten, verfügten sie bei Verfahrenseinstellungen kaum über Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu<br />

verschaffen. Das Berner Strafverfahren sah die Zuteilung eines Pflichtverteidigers nur für das Hauptverfahren,<br />

nicht jedoch für die Voruntersuchung vor. 1073 Zudem stellten die Einstellung <strong>und</strong> Aufhebung von<br />

Strafverfahren prozessuale Verfügungen dar, die in geheimer Beratung getroffen wurden <strong>und</strong> nicht durch<br />

eine höhere Instanz überprüft lassen werden konnten. 1074 Diese Einschränkung der Rechtsmittel ist inso-<br />

1070 Vgl. Kp. 8.2. Zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 erstellten die Berner Irrenanstalten 711 strafrechtliche Gutachten. Im gleichen Zeitraum<br />

stellten die Strafverfolgungsbehörden mindestens 213 Strafverfahren mangels Zurechnungsfähigkeit ein <strong>und</strong> ordneten<br />

sichernde Massnahmen an.<br />

1071 Vgl. UPD KG 4719; UPD KG 6310; PZM KG 4086; UPD KG 8485; UPD KG 8646.<br />

1072 TBGR, 1902, 283.<br />

1073 StV 1850, Artikel 263.<br />

1074 Das Berner Strafverfahren von 1850 sah lediglich Rechtsmittel gegen Endurteile, nicht jedoch gegen Verfügungen im Laufe<br />

der Voruntersuchung vor.<br />

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