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Psychiatrie und Strafjustiz

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gekommene Geisteskrankheiten in der Familie oder Aussagen von Hausärzten. Ausser bei Arztzeugnissen<br />

waren sie dabei zwangsläufig auf Beobachtungen <strong>und</strong> Beschreibungen von medizinischen Laien angewie-<br />

sen. Das Fallbeispiel von Johann G. zeigt aber gerade, wie solche Alltagswahrnehmungen <strong>und</strong> sogar Diag-<br />

nosen von medizinischen Laien, die in den Untersuchungsakten enthalten waren, eine psychiatrische Di-<br />

agnosestellung vorweg nehmen konnten. 817 So hatte die Mutter von Johann G. vor dem Untersuchungs-<br />

richter auf die Frage nach allfällig vorgekommenen Geisteskrankheiten erklärt, dass in der Familie alle<br />

«nervös» seien. Auch der Vater meinte, sein Sohn habe das «sonderbare <strong>und</strong> aufgeregte» Wesen von der<br />

Mutter geerbt, die namentlich in schwangerem Zustand «sehr nervös» gewesen sei. Das Moment der vererbten<br />

«Nervosität» wurde von den Sachverständigen in ihren Schlussfolgerungen bereitwillig aufgegriffen:<br />

«Als Erbteil seiner Eltern, besonders von Mutters Seite her, bietet er [Johann G.] Anzeichen nervöser<br />

Reizbarkeit in den erhöhten Sehnenreflexen, der leicht beeinflussbaren Herztätigkeit <strong>und</strong> in seiner Nei-<br />

gung zu Kopfweh.» 818 Aber nicht nur bezüglich der «nervösen Reizbarkeit», bei der es sich um 1900 um<br />

einen interdiskursiven Topos par excellence handelte 819, sondern auch in Bezug auf die Wirkung des Alko-<br />

hols antizipierten die Aussagen der Bekannten <strong>und</strong> der Eltern in den Untersuchungsakten die Argumenta-<br />

tion der Psychiater.<br />

Zwei Musikkollegen von Johann G. hatten vor dem Untersuchungsrichter ausgesagt, Johann G. sei zwar<br />

ein «angenehmes» Mitglied der lokalen Musikgesellschaft gewesen, wenn er aber getrunken habe, so sei er<br />

ein «Schwahleri», ein «Mensch von planlosem, unruhigem Wesen» geworden. Auch der Vaters hatte be-<br />

zeugt, dass Johann G., wenn er zuviel getrunken hatte, «kein Bleiben mehr hatte», «ein- <strong>und</strong> ausging» <strong>und</strong><br />

würde auch sonst ein «aufgeregtes Wesen» zeigen. Die Mutter hatte an ihrem Sohn in vollständig nüchter-<br />

nem Zustand nie etwas «Abnormales» wahrgenommen. Sobald dieser aber ein Glas zuviel getrunken habe,<br />

sei er ein «ganz anderer» gewesen. Die Psychiater übernahmen diese Äusserungen dann beinahe wörtlich<br />

in ihre Schlussfolgerungen: «G. erträgt, wie dies bei nervös schwachen Menschen durchwegs der Fall ist,<br />

geistige Getränke schlecht <strong>und</strong> wenn er nun getrunken hat, so wird er unruhig, bleibt nicht mehr bei der<br />

Sache <strong>und</strong> zeigt ein unstetes <strong>und</strong> planloses Benehmen.» 820 Auch wenn der Einschub, «wie dies bei nervös<br />

schwachen Menschen durchwegs der Fall ist», auf ein psychiatrisches Erfahrungswissen rekurrierte, so<br />

blieb die Interpretation des Trinkverhaltens von Johann G. durch die Sachverständigen doch eng den<br />

Alltagswahrnehmungen verhaftet, die bereits den Untersuchungsakten zu entnehmen waren. Das Fallbeispiel<br />

von Johann G. zeigt somit, das gerade die zentrale Bedeutung von Untersuchungsakten für die psy-<br />

chiatrische Informationsbeschaffung Wege öffnete, auf denen Alltagswissen <strong>und</strong> lebensweltliche Vorstel-<br />

lungen über Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit in psychiatrische Gutachten einfliessen konnte. Im Gegenzug<br />

zeigt sich aber auch, dass stark popularisierte Krankheitskonzepte wie die «Nervosität» bereits in Alltags-<br />

diskursen zirkulierten, woran die psychiatrischen Sachverständigen wiederum anzuknüpfen vermochten.<br />

817 Auf die Überlagerung von psychiatrischem Experten- <strong>und</strong> Alltagswissen ist von der jüngeren Forschung verschiedentlich <strong>und</strong><br />

zwar sowohl für das frühe, als auch für das späte 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hingewiesen worden. Vgl. Lengwiler, 2000, 242, 244; Weber/Engstrom,<br />

1997, 382f.; Kaufmann, 1995, 260-274.<br />

818 StAB BB 15.4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johannes G., 9. Dezember 1897; vgl. pag. 131-133<br />

der Akten.<br />

819 Vgl. Roelcke, 1999, 129; Radkau, 1998, 103-113; Radkau, 1994, 224-227.<br />

820 StAB BB 15,4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johannes G., 9. Dezember 1897, vgl. pag. 131-133<br />

(Aussagen der Eltern); 133 (Aussagen der Musiker) der Akten.<br />

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