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Psychiatrie und Strafjustiz

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ten sich in ihren Augen zu einem Bild eines fortschreitenden moralischen Verkommens, im Verlaufe des-<br />

sen, Ernst S. die Kontrolle über sich <strong>und</strong> die Fähigkeit, sein Leben in Übereinstimmung mit den gesell-<br />

schaftlichen Normen zu gestalten, zunehmend verloren habe. In seinem eigenen Lebenslauf unternahm<br />

Ernst S. zwar eine ähnliche Deutung seines Lebens, als er feststellte, dass seine «Gefühlsdränge», diese<br />

«unglückliche Sache», verhinderten, dass er jemals auf «einen grünen Zweig» komme. Präsentierte er seine<br />

Verfehlungen als Folgen von Widrigkeiten <strong>und</strong> unglückliche Umstände, so schloss demgegenüber das<br />

psychiatrische Deutungsmuster der «Haltlosigkeit» die festgestellten Normverstösse mit einer vermuteten<br />

unveränderlichen Anlage kurz. Das soziale Fehlverhalten von Ernst S. wurde auf das Symptom einer «psychopathischen<br />

Persönlichkeit» reduziert, deren Charakterzüge auch in Zukunft unverändert fortbestehen<br />

würden. Für die Ausdeutung der «Gemeingefährlichkeit» durch die Psychiater war es entscheidend, dass<br />

die «Haltlosigkeit» <strong>und</strong> «geminderte Widerstandskraft» von Ernst S. nicht als Produkt widriger Lebensum-<br />

stände, sondern als Folge einer unveränderlichen Anlage gedeutet werden konnten, das sich dem Einfluss<br />

einer Korrektur durch eine Strafe entzog. Die Psychiater folgten dabei der diskursiven Matrix des Psycho-<br />

pathiekonzepts, wonach kriminelles Verhalten das Resultat einer den verbrecherischen Neigungen unter-<br />

legenen sittlichen «Widerstandskraft» sei. War diese «Widerstandskraft» bei einem Delinquenten wie Ernst<br />

S. über ein gewisses Mass hinaus geschädigt, musste sich die abschreckende <strong>und</strong> bessernde Wirkung der<br />

Strafe als illusorisch erweisen. Solche Straftäter wurden folglich zu einer permanenten «Gefahr» für die<br />

Gesellschaft. Einen zusätzlichen Beleg für die «Haltlosigkeit» <strong>und</strong> «Gemeingefährlichkeit» von Ernst S.<br />

sahen die Sachverständigen in dessen Drohung, «sich ganz fallen zu lassen»: «Ein Mensch, der auf einer so<br />

tiefen Stufe anlangt, moralisch so verkommen <strong>und</strong> abgestumpft ist, muss als gemeingefährlich bezeichnet<br />

werden.» 1199<br />

Die Bedeutung, die die psychiatrischen Sachverständigen bei der Beurteilung der Rückfallswahrscheinlich-<br />

keit der Fähigkeit zu einer «sittlichen Selbstführung» beimassen, wird ebenfalls im Fall von Fritz W. deut-<br />

lich. Der 53jährige Messerschleifer stand 1908 wegen versuchten Beischlafs mit zwei Mädchen in Burg-<br />

dorf vor Gericht. Fritz W. hatte die beiden Mädchen aus seiner Nachbarschaft in sein Haus gelockt <strong>und</strong><br />

sich dort an ihnen vergangen. Bereits 1902 war er wegen ähnlicher Handlungen verurteilt worden. Die<br />

Sachverständigen der Waldau bezeichneten Fritz W. als einen «unheilbaren Schwachsinnigen», der nicht<br />

fähig sei, «nach ethischen Gr<strong>und</strong>sätzen zu handeln». Fritz W. wisse zwar, dass er sich an Kindern nicht<br />

vergreifen dürfe, allein «fühlt W. doch nicht, dass eine solche Tat an sich unmoralisch ist, also als solche<br />

schon nicht erlaubt sei <strong>und</strong> etwas Strafbares in sich trage, unsittlich sei. Diese wahre Einsicht entgeht ihm<br />

durchaus, es fehlen ihm im gegebenen Moment die ethischen Vorstellungen, die seinen Leidenschaften<br />

oder Begierden hemmend entgegen wirken könnten; er wird, wie so viele Schwachsinnige, leichter als<br />

ges<strong>und</strong>e, geistig vollwertige Menschen, momentanen Impulsen unterliegen, ohne an die Strafbarkeit oder<br />

an die Folgen zu denken.» Wie im Fall von Ernst S. machte hier die Feststellung von Defiziten der volun-<br />

tativen <strong>und</strong> affektiven psychischen Funktionen den Kern der psychiatrischen Argumentation aus. Als<br />

Beleg für die mangelhafte Selbstkontrolle von Fritz W. diente den Experten eine kleine Begebenheit, die<br />

sich auf einem Spaziergang mit andern Patienten der Waldau zugetragen hatte. Unterwegs habe sich W.<br />

einer Gruppe spielender Kinder genähert <strong>und</strong> sich mit diesen unterhalten. Hieraus schlossen die Sachver-<br />

ständigen auf eine immer noch bestehende «Vorliebe für Kinder», gegen die W. trotz seines Wissens um<br />

die Strafbarkeit des sexuellen Umgangs mit Kindern nicht anzukämpfen vermochte. Sie sahen das Delikt<br />

von W. als das Resultat eines inneren Kampfes, bei dem das sittliche Empfinden <strong>und</strong> das Wissen um die<br />

Strafbarkeit dem geschlechtlichen Begehren unterlegen sei. Stärker als bei Ernst S. fokussierte die psychi-<br />

1199 StAB Bez. Bern B, Band 3263, Dossier 628, Gutachten über Ernst S., 2. Februar 1904.<br />

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