13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

habe er sich in einer «Remission» bef<strong>und</strong>en, «in der die Frage der Zurechnungsfähigkeit wohl nicht ohne<br />

weiteres zu verneinen ist». Dies umso mehr als dem bestohlenen Arbeitgeber von Heinrich B. an diesem<br />

nichts «Besonderes» aufgefallen sei. Die Annahme einer «Remission» <strong>und</strong> die Aussage des Arbeitgebers<br />

führten die Sachverständigen in ihrem Gutachten dazu, die Selbstevidenz der «Dementia praecox» zu rela-<br />

tivieren: «Die Dementia praecox zeichnet sich in vielen Fällen nicht durch Irrreden, Wahnvorstellungen<br />

oder Sinnestäuschungen <strong>und</strong> unsinnige Handlungen aus, die jedem in die Auge springen, sondern oft nur<br />

durch sittliche <strong>und</strong> gemütliche Abstumpfung, durch Haltlosigkeit, durch Urteilsschwäche <strong>und</strong> Zerfahren-<br />

heit, die schwerer zu erkennen sind, namentlich in Remissionen, wie sie bei dieser Krankheit vorkom-<br />

men.» 906<br />

Die <strong>Psychiatrie</strong> der Jahrh<strong>und</strong>ertwende konzeptualisierte die «Dementia praecox» als Geisteskrankheit, die<br />

in Schüben verlaufen konnte. In Zeiten vorübergehender «Besserung», so genannter «Remissionen», zeig-<br />

ten die Betroffenen keine augenfälligen Zeichen von Geistesstörungen. Wie das Gutachten über Heinrich<br />

B. zeigt, waren die Psychiater aber ausserordentlich vorsichtig, von einer eigentlichen «Heilung» zu spre-<br />

chen <strong>und</strong> beharrten stattdessen darauf, dass auch solche symptomfreien Zeiträume zum Krankheitsprozess<br />

gehörten. So meinte Bleuler 1911 bezüglich Remissionen bei schizophrenen Patienten: «Dem Laien<br />

können solche Kranke dann ganz normal erscheinen. Bei genauerem Zusehen findet man aber eine<br />

merkwürdige Indifferenz wenigstens gegen das im [vergangenen] Anfall Geschehene.» 907 Dieser zeitweise<br />

«latente» oder «stillstehende» Charakter des Krankheitsprozesses ergab ein diskursives Muster, das den<br />

Berner Sachverständigen schliesslich erlaubte, die Straftat von Heinrich B. trotz Fehlen offensichtlicher<br />

Symptome auf eine «Dementia praecox» zurückzuführen: «Die krankhafte Gr<strong>und</strong>lage für B.’s Handlung ist<br />

jedenfalls auch am 13. Oktober [Tag der Tat] vorhanden gewesen. Wir führen B.’s Krankheit bis [...] auf<br />

seine Pubertätszeit [zurück], die wir als Gelegenheitsursache sehen, während wir seine Anlage für die wah-<br />

re innere Ursache halten. Seitdem finden wir ihn gemütlich stumpf, sittlich haltlos, willensschwach. Wir<br />

begreifen, dass er es nirgends aushält <strong>und</strong> jede Stelle rasch aufgibt. Wir verstehen, wie er, zumal seit ihn<br />

eine Gehirnerschütterung geschwächt hat, immer tiefer ins Trinken verfällt <strong>und</strong> sich dadurch weiter schä-<br />

digt. Wir erkennen, warum er sich öfters an seinem eigenen Leben vergreift <strong>und</strong> schliesslich die eingeklag-<br />

te Unterschlagung begeht.» 908 In den Augen der Sachverständigen waren die Pubertätszeit, die erste mani-<br />

feste Krankheitsphase, der symptomfreie Intervall <strong>und</strong> die damals begangene Straftat Bestandteil des ein<br />

<strong>und</strong> desselben Krankheitsprozesses. Diese Annahme erlaubte ihnen, den Diebstahl von Heinrich B. als<br />

eine Krankheitsepisode zu sehen, welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschloss.<br />

Der Umstand, dass «einfache Störungen» wie die «Dementia praecox» ein breites Spektrum von Sympto-<br />

men <strong>und</strong> Krankheitsstadien umfassten, <strong>und</strong> die Konzeption der «Dementia praecox» als ein in Schüben<br />

mit symptomfreien «Remissionen» verlaufender Krankheitsprozess hatten in der gerichtspsychiatrischen<br />

Praxis zur Folge, dass sich (auch) in diesem Bereich die Grenzen zwischen eindeutigen Fällen <strong>und</strong> eigentlichen<br />

«Grenzfällen» zu verwischen begannen. So diagnostizierten die Sachverständigen bei Heinrich B.<br />

wie bei Friedrich H. eine «Dementia praecox», obwohl sich beide Fälle hinsichtlich der Eindeutigkeit <strong>und</strong><br />

Konstanz der Symptome beträchtlich unterschieden. Die Problematik von «Grenzfällen» im Bereich der<br />

psychotischen Störungen sollte sich nach dem Ersten Weltkrieg dadurch verstärken, dass Bleulers Kon-<br />

zept der «Schizophrenie» eine Phase der «Latenz» einschloss, die dem eigentlichen Krankheitsprozess<br />

vorausging. 909 Durch diese konzeptuelle Erweiterung liessen sich wie im Fall von Heinrich B. auch leichte-<br />

906 UPD KG 5879, Psychiatrisches Gutachten über Heinrich Friedrich B., 18. Februar 1905.<br />

907 Bleuler, 1911, 204; vgl. Kraepelin, 1899 II, 158f., 179f.<br />

908 UPD KG 5879, Psychiatrisches Gutachten über Heinrich Friedrich B., 18. Februar 1905.<br />

909 Bleuler 1911, 196; Hoenig, 1995, 343f.<br />

210

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!