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Psychiatrie und Strafjustiz

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nicht schlecht seien. 1398 Aufgr<strong>und</strong> der positiven Ergebnisse der Umfrage schloss sich der Nationalrat 1933<br />

dem Vorschlag des Ständerats an. Das Strafgesetzbuch erlaubte somit erstmals die zwangsweise Behand-<br />

lung kriminell gewordener Rauschgiftsüchtiger. 1399 Im Gegensatz zur Auseinandersetzung um die «Ge-<br />

wohnheitstrinker» verlief diese Debatte mit einer erstaunlichen Einstimmigkeit. Stiess im Fall der «Ge-<br />

wohnheitstrinker» eine Medikalisierung des Strafrechts seitens der Verteidiger des traditionellen Schuld-<br />

strafrechts auf erbitterten Widerstand, so herrschte über die Ausweitung des medizinischen Bezugsrah-<br />

mens auf die (kleine) Gruppe der Rauschgiftsüchtigen ein breiter politischer Konsens. Dieser erstaunliche<br />

Konsens dürfte zum einen auf die im Vergleich zum Alkoholdiskurs schwache Ausprägung moralisieren-<br />

der Deutungsmuster im Zusammenhang mit Rauschgiftkonsum zurückzuführen sein. Andererseits war<br />

bereits im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelgesetz ein Problembewusstsein für die «neuen<br />

Rauschmittel» zum Ausdruck gekommen, das von allen politischen Lagern geteilt wurde. 1400<br />

Medikalisierungspostulate im Parlament: Symbolische Kompromisse <strong>und</strong> Skepsis<br />

Mit der Parlamentsdebatte um das Strafgesetzbuch gerieten die Postulate für eine teilweise Medikalisie-<br />

rung des Strafrechts erstmals ins parteipolitische Spannungsfeld, das in diesem Fall durch eine Konfliktli-<br />

nie strukturiert wurde, die letztlich auf die Tradition des Kulturkampfs zurückging. So ist es nicht erstaun-<br />

lich, dass die Strafrechtsdebatte der Zwischenkriegszeit erhebliche Ähnlichkeiten zu den Parlamentsdebat-<br />

ten über die Rechtseinheit von 1896/97 aufwies. In beiden Fällen überlagerten sich staats- <strong>und</strong> kriminal-<br />

politische Konfliktlinien, die zugleich eine parteipolitische Prägung erfuhren. Auf der einen Seite befür-<br />

wortete eine breite Koalition aus Bürgerlichen <strong>und</strong> Sozialdemokraten die Rechtseinheit <strong>und</strong> die Realisie-<br />

rung einer regulativen Kriminalpolitik, die in einem beschränkten Rahmen auf medizinische Deutungs-<br />

muster <strong>und</strong> Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte zurückgriff. Auf der andern Seite sahen Vertreter der<br />

Westschweiz <strong>und</strong> der Katholisch-Konservativen in der Umsetzung der Rechtseinheit einen Angriff auf die<br />

Souveränität der Kantone. Im Fall der Konservativen kam eine Gr<strong>und</strong>satzkritik an einer regulativen Kri-<br />

minalpolitik hinzu. Die konservativen Angriffe auf eine partielle Medikalisierung des Strafrechts zeitigten<br />

indes kaum konkrete Resultate. So wurde die von Stooss konzipierte Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong><br />

Massnahmen nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die Debatten um die Behandlung der Trunkenheitsdelikte<br />

wiesen vor allem eine symbolhafte Bedeutung auf, erlaubten sie doch in einem juristisch zweitrangigen<br />

Bereich die Artikulation eines breiten Missbehagens gegenüber einer vermeintlich laxen Exkulpationspra-<br />

xis. Verantwortlich gemacht wurden dafür in erster Linie die Psychiater. Allerdings übersahen die konser-<br />

vativen Kritiker, dass inzwischen selbst führende Psychiater wie Hans W. Maier in einer allzu grosszügigen<br />

Exkulpationspraxis eine Gefahr für den «Umsturz des Strafrechts» witterten. 1401 Deutlich zum Ausdruck<br />

kam dieser Trend zu einer wachsenden Zurückhaltung gegenüber medizinischen Deutungsmustern sowie<br />

Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten in der Strafrechtspflege in der umstrittenen Frage der «Ge-<br />

wohnheitstrinker». Der in diesem Fall schliesslich gef<strong>und</strong>ene Kompromiss bestätigte prinzipiell die Priori-<br />

tät der Schuldstrafe vor der medizinischen Massnahme. Forderungen nach einer forcierten Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens, die über die Entwürfe der Expertenkommission von 1912 <strong>und</strong> des B<strong>und</strong>es-<br />

rats hinausgegangen wären, waren denn auch in der Zwischenkriegszeit weitgehend vom Tisch.<br />

1398 BAR E 4110 (A) -/42, Band 78, Brief Hans. W. Maier an das Eidgenössische Justizdepartement, 22. September 1932..<br />

1399 Sten. Bull. NR, 1933, 844-846<br />

1400 Vgl. Tanner, 1990, 415f.<br />

1401 Vgl. Kp. 9.2.<br />

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