13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Seinem Lehrmeister war nichts Krankhaftes an ihm aufgefallen, auch hatte er keine gleichgeschlechtlichen<br />

Handlungen beobachtet. Wie Ernst S. den Sachverständigen erzählte, sei sein «Geschlechtsgefühl» mit 13<br />

Jahren «erwacht» <strong>und</strong> schon früh sei er «von sich aus der Onanie verfallen». Geschlechtliche Beziehungen<br />

mit einem «weiblichen Wesen» habe er dagegen nie gehabt. Wie er in seinem Lebenslauf berichtete, wollte<br />

<strong>und</strong> konnte er nicht heiraten, «jedoch wenn meine zeitweiligen Gefühlsdränge kamen, war mein Sinn auf<br />

Männer gerichtet für widernatürliche Inzucht, es ist mir angeboren, diese unglückliche Sache verfolgt mich<br />

beständig, ich kann dadurch auf keinen grünen Zweig kommen». 1197 Ernst S behauptete, dass er seinem<br />

Geschlechtstrieb jeweils nur unter der «reizenden Wirkung des Alkohols» unterlegen sei. Gemäss dem<br />

psychiatrischen Gutachten wurde Ernst S. 1884 erstmals wegen Diebstahls verurteilt. 1887 absolvierte er<br />

die Rekrutenschule <strong>und</strong> arbeitete danach als Wärter in verschiedenen Irrenanstalten. Wie Ernst S. berich-<br />

tete, habe er stets einen «grossen Wandertrieb» verspürt <strong>und</strong> «kein Sitzleder» <strong>und</strong> «nirgends Ruhe» gehabt.<br />

Nachdem er anlässlich des Käfigturmkrawalls eine Kopfverletzung erlitten hatte, verkaufte er sein damali-<br />

ges Coiffeurgeschäft <strong>und</strong> ging erstmals auf Reisen. 1895 wurde er wegen Diebstahls verurteilt <strong>und</strong> kam<br />

zum ersten Mail in die Waldau zur Begutachtung. 1896 unternahm er eine mit geliehenem Geld eine wei-<br />

tere Reise, «ohne sich irgendwo länger aufzuhalten, bis das Geld verbraucht war». Im anschliessenden<br />

Militärdienst wurde er wegen sexueller Übergriffe verurteilt <strong>und</strong> kam, nachdem in der Haft Wahnideen<br />

aufgetreten waren, für zwei Jahre in die Waldau. Nach seiner Entlassung arbeitete er in Ins als Coiffeur.<br />

1900 wurde er wegen sexueller Übergriffe auf Kinder angeklagt <strong>und</strong> wiederum in der Waldau psychiatrisch<br />

begutachtet. 1900 ging er auf eine weitere, von den Sachverständigen als «Irrfahrt» bezeichnete Reise.<br />

Nach seiner Rückkehr liess er sich ambulant behandeln <strong>und</strong> arbeitete als Pfleger im Berner Inselspital, bis<br />

die Entdeckung seiner Vorstrafen zu seiner Entlassung führte. Daraufhin sei er «ohne Sinn» in der Stadt<br />

herumgelaufen, bis er im «Dählhölzli» verhaftet worden sei. Gegenüber den Sachverständigen meinte<br />

Ernst S., dass er, falls er keine Strafe erhalte, sich völlig «la keiä» lasse. Man könne «ihn dann haben».<br />

Ähnlich wie im Fall des erwähnten Hans Rudolf W. deutete das psychiatrische Gutachten die Lebensge-<br />

schichte von Ernst S. als stringente Folge einer «psychopathischen Veranlagung». Die Sachverständigen<br />

sahen in der Lebensgeschichte einen untrüglichen Beweis für eine «krankhafte <strong>und</strong> daher unkorrigierbare,<br />

auf hereditärer Entartung beruhende moralische Degeneration mit (sek<strong>und</strong>är angeborener) Perversität des<br />

Geschlechtslebens». Im Einklang mit der diskursiven Matrix des Psychopathiekonzepts diagnostisierten<br />

sie bei ihrem Exploranden «unmotivierte Stimmungswechsel», «Reizbarkeit», «Mängel im Gefühlsleben»,<br />

«Lügenhaftigkeit», «Unlust <strong>und</strong> Unfähigkeit zu anhaltender Arbeit» sowie ein «mächtig entwickeltes Trieb-<br />

leben». Sowohl seine gleichgeschlechtlichen Sexualkontakte, als auch die drei «Irrfahrten» seien als Aus-<br />

druck «impulsiver Handlungen» eines «Degenerierten» anzusehen. Wie in ähnlich gelagerten Fällen, führ-<br />

ten die Sachverständigen die Delikte von Ernst S. auf eine «krankhaft geminderte Widerstandskraft» zu-<br />

rück, bei der «die als Gegenmotiv imponierende, zu befürchtende Strafe ihre Wirksamkeit verloren hat.»<br />

Aufgr<strong>und</strong> dessen unveränderlicher Krankhaftigkeit bezweifelten sie eine künftige Besserung von Ernst S.,<br />

ohne eine solche jedoch gänzlich auszuschliessen, denn «bisher freilich blieb er durch alle Strafen, einen<br />

2jährigen Aufenthalt in der Irrenanstalt gänzlich unbeeinflusst <strong>und</strong> ungebessert, er verkam im Gegenteil<br />

immer mehr, verlor immer mehr jeglichen moralischen Halt <strong>und</strong> jegliche Widerstandskraft <strong>und</strong> bildete<br />

eine immer grössere Gefahr für die menschliche Gesellschaft». 1198<br />

Die Sachverständigen sahen in den Verstössen von Ernst S. gegen gesellschaftliche (Sexual-)Normen ei-<br />

nen Ausdruck einer krankhaft veränderten Individualität. Die verschiedenen Lebensabschnitte verdichte-<br />

1197 StAB Bez. Bern B, Band 3263, Dossier 628, Lebensbeschreibung von Ernst S., 2. Februar 1904.<br />

1198 StAB Bez. Bern B, Band 3263, Dossier 628, Gutachten über Ernst S., 2. Februar 1904.<br />

291

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!