13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ungen demzufolge in den «andern Gründen» eingeschlossen. 649 Ein «freier Wille» hiess für Emmert, dass<br />

der Handelnde im Stande sei, sein Tun auf Überlegungen <strong>und</strong> Vorstellungen, die den «wirklichen Verhält-<br />

nissen» angemessen erscheinen, zu gründen <strong>und</strong> in eine freien «psychomotorischen Tätigkeit» umzusetzen.<br />

Unter den Momenten, welche die freie Willensbestimmung aufheben konnten, verstand er in erster Linie<br />

«Wahnvorstellungen», aber auch Affekte wie Zorn, Furcht <strong>und</strong> Schreck. 650<br />

Emmerts Gesetzeskommentar berücksichtigte im Wesentlichen jene Formen von Geistesstörungen, die<br />

mit einer Schädigung der Verstandestätigkeit oder mit Wahnvorstellungen einhergingen. Damit schloss er<br />

an die traditionelle Engführung von juristischem Schuld- <strong>und</strong> medizinischem Krankheitsbegriff an. Was<br />

für Emmert im Vordergr<strong>und</strong> stand, war eine Interpretation der juristischen Terminologie mittels medizini-<br />

scher Begriffe. Er anerkannte dadurch implizit den Primat des juristischen Bezugssystems. Nicht geteilt<br />

wurde diese Auffassung dagegen von den Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzten. Im Einklang mit den Bestrebungen<br />

der Disziplin, die strafrechtliche Willenssemantik aus den Vorentwürfen zu einem schweizerischen Straf-<br />

gesetzbuch zu kippen, kritisierten sie um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende die Bestimmung des Berner Strafgesetzes.<br />

So stiess sich der Direktor der Irrenanstalt Münsingen, Georg Glaser, 1901 in der Schweizerischen Zeitschrift<br />

für Strafrecht am Begriff der Willensfreiheit, wie ihn das Berner Strafgesetzbuch vorsah. Glaser plädierte für<br />

eine Unterordnung der strafrechtlichen Willenssemantik unter das medizinische Differenzschemata von<br />

Ges<strong>und</strong>heit/Krankheit: «Unter freiem Willen versteht es [das Berner Strafgesetz] aber den Willen eines<br />

geistig normalen Menschen einer gewissen Altersstufe, der weder im augenblicklichen hochgradigen Af-<br />

fekte, noch infolge äusseren Zwanges oder gefährlicher Drohungen handelt; es versteht mit andern Wor-<br />

ten unter ‹freiem Willen› den ges<strong>und</strong> konstruierten Willen des erwachsenen Täters [...].» 651 Auch von Speyr<br />

bezeichnete 1909 Artikel 43 als «nicht besonders glücklich abgefasst», <strong>und</strong> wie bereits in seinem Churer<br />

Referat von 1893 forderte er eine Abgabe der Gutachten nach rein medizinischen Kriterien: Die Irrenärz-<br />

te «sollten sich nur auf dem Gebiete bewegen, auf dem sie zu Hause sind <strong>und</strong> einfach sagen, ob der Ange-<br />

klagte geisteskrank sei oder nicht, bewusstlos, normal oder nicht». 652 Die Voten Glasers <strong>und</strong> von Speyrs<br />

brachten die Unzufriedenheit vieler Psychiater zum Ausdruck, Gerichtsgutachten nach den vom juristi-<br />

schen Bezugssystem vorgegebenen Begriffsschemata abgeben zu müssen. Der Vergleich zum Rechts-<br />

kommentar des Gerichtsmediziners Emmert verdeutlicht zugleich das gewachsene berufliche Selbstbe-<br />

wusstsein einer neuen Generation spezialisierter psychiatrischer Fachärzte, die in der Forensik ein Feld<br />

beruflicher Profilierung sahen.<br />

Fazit: Rechtliche Rahmenbedingungen zwischen Tradition <strong>und</strong> Flexibilität<br />

Die im Berner Strafverfahren vorgesehene Kompetenzverteilung zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> psychiatri-<br />

schen Sachverständigen <strong>und</strong> die Definition der Zurechnungsfähigkeit im Strafgesetzbuch von 1866 wider-<br />

spiegeln im Wesentlichen den Stand der bürgerlichen Strafgesetzgebung um die Mitte des 19. Jahrhun-<br />

derts. Dementsprechend sah das Strafverfahren die Pflicht der Justizbehörden vor, «zweifelhafte Geistes-<br />

zustände abklären zu lassen, ohne dass den dabei anfallenden Sachverständigengutachten eine verbindliche<br />

Wirkung zugekommen wäre. Gleichzeitig zementierten die Bestimmungen des Strafgesetzes über die Zu-<br />

rechnungsfähigkeit definitiv die Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der beschriebenen kriminalpolitischen Lernprozesse erstaunt es nicht, dass diese Bestimmungen um die<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende seitens der Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzte unter Kritik gerieten. Ausdruck fand diese Kritik<br />

allerdings vor allem im Rahmen der schweizerischen Strafrechtsdebatte <strong>und</strong> weniger auf kantonaler Ebe-<br />

649 Emmert, 1895, 67.<br />

650 Emmert, 1895, 72-74.<br />

651 Glaser, 1901, 367.<br />

652 Speyr, 1909, 28f.<br />

144

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!