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Psychiatrie und Strafjustiz

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echtsreformbewegung eine entscheidende Rolle. Dies gilt insbesondere für die im zweiten Abschnitt<br />

analysierten Reformvorschläge des deutschen Juristen Franz von Liszt, der mit der Publikation des «Mar-<br />

burger Programms» 1882 zur Leitfigur der Strafrechtsreform im deutschsprachigen Raum wurde. Von<br />

Liszt war ebenfalls massgeblich an der Gründung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) betei-<br />

ligt, die, wie im dritten Abschnitt dargestellt wird, nach 1889 eine wichtige Rolle bei der Vernetzung der<br />

internationalen Strafrechtsreformbewegung <strong>und</strong> bei der Formulierung eines Programms der «sozialen<br />

Verteidigung» spielte.<br />

Das neue Strafparadigma: «soziale Verantwortlichkeit» <strong>und</strong> «Gemeingefährlichkeit»<br />

Ausgangspunkt für das Reformkonzept der Kriminalanthropologen war das Infragestellen des Axioms der<br />

individuellen Verantwortlichkeit. Vor allem der Strafrechtler Enrico Ferri, der bereits in seiner 1878 er-<br />

schienenen juristischen Dissertation La teorica dell’imputabilità e la negazione del libero arbitrio das Vorhanden-<br />

sein der «Willensfreiheit» in Frage gestellt hatte, unternahm in den 1880er Jahren den Versuch, den staatli-<br />

chen Strafanspruch ausgehend von einem Konzept der «sozialen Verantwortlichkeit» neu zu begründen.<br />

Ferri berief sich dabei auf die Erkenntnisse der modernen Psychologie, die beweisen würde, dass die<br />

menschliche Freiheit eine «Illusion» sei. Persönlichkeit <strong>und</strong> Handeln würden vielmehr durch die Verer-<br />

bung <strong>und</strong> das soziale Milieu determiniert. 294 Geradezu paradoxe Auswirkungen konstatierte Ferri bei der<br />

Handhabung der neuen psychiatrischen Deutungsmuster in der Justizpraxis. Diese würden dazu führen,<br />

dass zu viele «gefährliche» DelinquentInnen von einer verminderten Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> einer ge-<br />

milderten Strafe profitieren könnten: «Die gefährlicheren <strong>und</strong> gerade deshalb abnormeren Verbrecher<br />

erhalten Strafmilderungen <strong>und</strong> Gnadenbeweise, weil man falsche Konsequenzen aus den positiven bio-<br />

psychologischen Daten zieht, die man mit metaphysischen Theorien [der Willensfreiheit] vermengt.» 295<br />

Die Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis im Rahmen des Schuldstrafrechts müsse deshalb, so<br />

Ferri, zu einer Unterminierung der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> zu einer Legitimationskrise der <strong>Strafjustiz</strong><br />

führen. Dies umso mehr, als das Schuldprinzip zur Folge habe, dass gegen so genannte «Gelegenheitsver-<br />

brecher», eine grosse Zahl kurzer <strong>und</strong> unwirksamer Freiheitsstrafen verhängt würde. Das geltende Straf-<br />

recht sei, so Ferri, «zu streng gegen die Gelegenheitsverbrecher», aber «zu schwach gegen die gefährlichen<br />

<strong>und</strong> degenerierten Verbrecher». 296<br />

Ferri wollte diesem scheinbaren Paradox mit einer Entkoppelung von Verschulden <strong>und</strong> Sanktion begeg-<br />

nen. Die strafrechtliche Reaktion des Staates dürfe sich nicht am individuellen Verschulden, sondern am<br />

Prinzip der Selbsterhaltung <strong>und</strong> des Schutzes der Gesellschaft orientieren. Analog zur Seuchenbekämp-<br />

fung gelte es, das «Verbrechen als Wirkung individueller Anomalien <strong>und</strong> als ein Symptom pathologischer<br />

Zustände der Gesellschaft» zu bekämpfen. 297 Gr<strong>und</strong>lage der Verbrechensbekämpfung müsse folglich nicht<br />

die individuelle, sondern die «soziale» Verantwortlichkeit der DelinquentInnen bilden, die durch ihr<br />

verbrecherisches Handeln die Existenzbedingungen des «Gesellschaftsorganismus» gefährden: «Die<br />

Gr<strong>und</strong>idee dieser sozialen Verantwortlichkeit besteht darin, dass jeder Mensch überall <strong>und</strong> immer sowohl<br />

auf zivil- <strong>und</strong> strafrechtlichem wie auf jedem andern nicht juristischem Gebiet durch jede seiner Handlun-<br />

gen eine entsprechende soziale Rückwirkung hervorruft <strong>und</strong> durch dadurch die natürlichen <strong>und</strong> sozialen<br />

Konsequenzen seiner Handlung zu fühlen bekommt, d.h. dass er sie zu verantworten hat, allein deshalb,<br />

weil er es ist, der sie getan hat. Diese Idee [...] gibt auch die Antwort auf die [...] Frage, warum der Mensch<br />

für seine Verbrechen verantwortlich ist. Während die traditionelle Wissenschaft darauf antwortete, dass er<br />

294 Ferri, 1896, 223, 228f., 237.<br />

295 Ferri, 1896, 244.<br />

296 Ferri, 1896, 244.<br />

297 Ferri, 1896, 282.<br />

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