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Psychiatrie und Strafjustiz

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staltsverwaltern in den 1870er Jahren hingewiesen. 67 Auch Ramsauer beruft sich auf das Professionalisie-<br />

rungskonzept, wenn sie in der Zürcher Fürsorgepraxis einen «Siegeszugs der <strong>Psychiatrie</strong>» konstatiert. 68<br />

Nach Hans Jakob Ritter lässt sich schliesslich die «Professionalisierung <strong>und</strong> Modernisierung» der Schwei-<br />

zer <strong>Psychiatrie</strong> an der Geschichte ihrer Standesorganisation ablesen. Die Umbenennung des dem Verein<br />

Schweizerischer Irrenärzte in Schweizerische Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> im Jahre 1920 symbolisiert seiner Ansicht<br />

nach einen neuen «ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> sozialpolitischen Anspruch» der Disziplin. 69 Alle genannten Untersu-<br />

chungen sehen in Professionalisierungsbestrebungen <strong>und</strong> Expansionsgelüsten der Psychiater wichtige<br />

Erklärungsfaktoren für die seit den 1880er Jahren festzustellende Tendenz, abweichendes <strong>und</strong> kriminelles<br />

Verhalten zunehmend zu medikalisieren.<br />

Es ist bereits auf die von Foucault geäusserte Skepsis gegenüber dieser «Expansionismusthese» hingewie-<br />

sen worden. 70 Dass solche Vorbehalte sowohl in konzeptueller, als auch in empirischer Hinsicht ernst zu<br />

nehmen sind, soll im Folgenden dargelegt werden. Als Professionalisierung lässt sich grob derjenige Pro-<br />

zess bezeichnen, in dessen Verlauf sich eine Berufsgruppe dem Idealtypus der Profession annähert. Damit<br />

verb<strong>und</strong>en ist das bewusste Anstreben eines vergleichsweise hohen Masses an beruflicher Autonomie <strong>und</strong><br />

eines tendenziellen Monopols innerhalb des beruflichen Zuständigkeitsbereichs. Gemäss den einschlägi-<br />

gen Definitionen beinhaltet der Prozess der Professionalisierung verschiedene Aspekte wie die Systemati-<br />

sierung beruflichen Wissens, die Kontrolle des Berufszugangs sowie der Ausbildung, die berufsinternen<br />

Homogenisierung, die kollektive Autonomisierung gegenüber äussern Kontrollinstanzen <strong>und</strong> die gezielte<br />

Monopolisierung expandierender Dienstleistungsmärkte. Ebenfalls Bestandteil von Professionalisierungs-<br />

prozessen ist das Bestreben der professionals, ihren Status <strong>und</strong> Arbeitsbereich in Form normativer Regel-<br />

komplexe <strong>und</strong> organisatorischer Verdichtungen zu institutionalisieren. Innerhalb der sozialwissenschaftli-<br />

chen Professionalisierungstheorien werden in der Regel funktionalistische sowie konflikt- <strong>und</strong> machttheo-<br />

retische Ansätze unterschieden. Gehen erstere im Anschluss an Talcott Parsons davon aus, dass zwischen<br />

der Selbstkontrolle der professionals <strong>und</strong> den gesellschaftlichen Kontrollbedürfnissen eine funktionale Be-<br />

ziehung besteht, so interpretieren konflikt- <strong>und</strong> machtheoretische Ansätze Professionalisierungsprozesse<br />

als Ergebnisse sozialer Auseinandersetzungen, in deren Folge die Professionen ihre Autonomie- <strong>und</strong> Mo-<br />

nopolansprüche erfolgreich durchsetzen. 71 Was die Handhabung des Professionalisierungskonzepts im<br />

Rahmen dieser Untersuchung anbelangt, stellt sich zum einen die Frage, inwieweit sich die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong><br />

im Laufe ihrer Entwicklung überhaupt dem Idealtypus der Profession angenähert hat. Zum an-<br />

dern ist zu diskutieren, inwiefern die Annahme eines solchen Professionalisierungsprozesses geeignet ist,<br />

das kollektive Handeln der Schweizer Psychiater im Zusammenhang mit der Medikalisierung abweichen-<br />

den Verhaltens zu erklären.<br />

Es erscheint zunächst fraglich, ob die Psychiater als Berufsgruppe überhaupt als Profession bezeichnet<br />

werden können. Die <strong>Psychiatrie</strong> entwickelte sich in der Schweiz aus der allgemeinen Medizin heraus. Viele<br />

der frühen Psychiater waren zunächst als Allgemeinärzte tätig, bis sie sich in ihrer Funktion als Ärzte an<br />

den seit der Jahrh<strong>und</strong>ertmitte entstehenden Irrenanstalten spezialisierten. 72 In dieser Perspektive ist die<br />

Entstehung <strong>und</strong> Konsolidierung einer eigenständigen <strong>Psychiatrie</strong> als Spezialisierungsprozess innerhalb der medi-<br />

zinischen Profession zu bezeichnen, in dessen Verlauf sich die Irrenärzte als Fachärzte zu profilieren <strong>und</strong> von<br />

67 Klee, 1991, 43-46.<br />

68 Ramsauer, 2000, 233, 276.<br />

69 Ritter, 2000, 128f.<br />

70 Vgl. Foucault, 1978, 136-138.<br />

71 Vgl. Wetterer, 1993; 17-47; Siegrist, 1988; 14f.; Huerkamp, 1985, 16f; Rüschemeyer, 1984.<br />

72 Vgl. die äusserst hilfreichen «Notices biographiques» in: Fussinger/Tevaearai, 1998, 165-198. Eine prosopographische Erforschung<br />

der (frühen) Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> bleibt ein Desiderat der Forschung.<br />

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