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Psychiatrie und Strafjustiz

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keineswegs unproblematisch, befürchteten doch viele Psychiater, dass unbescholtene PatientInnen <strong>und</strong><br />

deren Angehörige Anstoss an einer gemeinsamen Unterbringung nehmen könnten <strong>und</strong> dass durch die<br />

Anwendung zusätzlicher Disziplinarmittel der therapeutische Anspruch der Irrenanstalten untergraben<br />

würde. 1215<br />

Aufgr<strong>und</strong> seiner Studienreise gelangte Aschaffenburg zum Schluss, dass sich die Errichtung spezieller<br />

Zentralanstalten nicht bewährt habe. Auch Annexe an Strafanstalten, seien für eine langfristige Behand-<br />

lung von geistesgestörten Sträflingen ungeeignet. Dagegen befürwortete er Abteilungen an Strafanstalten,<br />

die der kurzfristigen Beobachtung <strong>und</strong> Selektion von nicht haftfähigen Sträflingen dienten. Als adäquate<br />

Art der Unterbringung empfahl Aschaffenburg «die Verteilung aller gefährlichen <strong>und</strong> schwierigen Kran-<br />

ken auf alle zur Verfügung stehenden Anstalten». Wo die bestehenden Einrichtungen nicht genügten,<br />

müssten «besonders gesicherte Häuser» geschaffen werden. Diese könnten unter Umständen auch von<br />

mehreren Anstalten gemeinsam genutzt werden. 1216 Die Position Aschaffenburgs repräsentierte zweifellos<br />

eine Mehrheit innerhalb der deutschen <strong>Psychiatrie</strong>. Wenngleich sein Eintreten für eine Verteilung der<br />

«verbrecherischen Geisteskranken» auf die bestehenden Anstalten nicht unwidersprochen blieb, so er-<br />

scheint seine Skepsis gegenüber der Schaffung spezialisierter forensisch-psychiatrischer Institutionen als<br />

typisch für die deutsche <strong>Psychiatrie</strong> vor dem Ersten Weltkrieg 1217 Im Vergleich zu Deutschland zeigten<br />

sich Staaten wie Frankreich oder Belgien der Idee spezieller Zentralanstalten gegenüber deutlich aufge-<br />

schlossener. 1218<br />

Im Gegensatz zu seinen englischen <strong>und</strong> italienischen Kollegen war sich Aschaffenburg des Potenzials<br />

spezialisierter Verwahrungsinstitutionen für eine Spezialisierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> voll bewusst.<br />

So empfahl er in seinem Bericht die Errichtung von Annexen an Irrenanstalten in Universitätsnähe, «um<br />

das wertvolle Studien- <strong>und</strong> Unterrichtsmaterial zur Ausbildung der Juristen <strong>und</strong> Mediziner» nutzen zu<br />

können. 1219 Er nahm damit seinen 1914 vor der IKV vorgebrachten Vorschlag zur Errichtung eigentlicher<br />

«Verbrecherkliniken» vorweg. Aschaffenburg selbst hatte seine Tätigkeit als Gefängnisarzt <strong>und</strong> Leiter der<br />

Beobachtungsstation in Halle zwischen 1901 <strong>und</strong> 1904 zur wissenschaftlichen Erfassung kriminellen Ver-<br />

haltens genutzt. Auf der Basis der in Halle mittels Zählkarten gesammelten Patientendaten veröffentlichte<br />

er 1905 eine breit angelegte Studie «Zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrecher», die wesentlich zu seinem<br />

Ruf als profiliertester Kriminologe Deutschlands beitrug. 1220 Ähnlich wie Aschaffenburg nutzten auch die<br />

beiden Göttinger Psychiater August Cramer (1860–1912) <strong>und</strong> Ernst Schultze sowie der Berliner Psychiater<br />

Karl Birnbaum ihre berufliche Tätigkeit an Anstaltsannexen, um sich im Bereich der forensischen Psychi-<br />

atrie zu profilieren. 1221 Das Beispiel Deutschlands zeigt, dass das Bestehen spezialisierter Anstalten keine<br />

zwingende Voraussetzung für Spezialisierungen im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> war. So hatten die<br />

Zentralanstalten Englands <strong>und</strong> Italiens rein verwahrende Funktionen, während sich in Deutschland bei<br />

einem deutlich geringeren Institutionalisierungsgrad aber unter Einfluss einer spezifischen Wissenschafts-<br />

kultur Ansätze zu einer weiter gehenden Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> entwickelten.<br />

1215 Aschaffenburg, 1912, 194-205, 267-269.<br />

1216 Aschaffenburg, 1912, 286f.<br />

1217 So spricht sich der bereits zitierte Chemnitzer Anstaltsdirektor deutlich prononcierter als Aschaffenburg für die Einrichtung<br />

von Annexen an Strafanstalten <strong>und</strong> Irrenanstalten aus; vgl. Weber, 1912, 576, 581.<br />

1218 Aschaffenburg, 1912, 106-114, 116-122.<br />

1219 Aschaffenburg, 1912, 287.<br />

1220 Aschaffenburg, 1905/06; Seifert, 1981, 217-220.<br />

1221 Cramer, auf dessen Anregung das Göttinger «Bewahrungshaus» errichtet worden ist, veröffentlichte bereits 1897 einen Leitfaden<br />

für gerichtliche <strong>Psychiatrie</strong>; vgl. Cramer, 1897. Schultze, Cramers Nachfolger in Göttingen, engagierte sich ebenfalls in den<br />

Bereichen forensische <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Strafrechtsreform; vgl. Pozsàr/Farin, 1995, 567f. Birnbaum stützte sich bei seinen Studien<br />

über «psychopathische Verbrecher» vor allem auf seine Tätigkeit an der Berliner Irrenanstalt Buch, die auch über ein<br />

«Verwahrungshaus» verfügte; vgl. Birnbaum, 1914, 7.<br />

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