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Psychiatrie und Strafjustiz

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scher Manier versprach er sich von einer Umgestaltung des Strafrechts eine «Veredlung der Rasse durch<br />

das Mittel der Ausscheidung (Selektion) derer, die sich der Gesellschaft nicht anzupassen vermögen». 372<br />

Zürcher war sich allerdings bewusst, dass sich die von ihm skizzierten Reformen politisch kaum je ver-<br />

wirklichen liess. So betonte er 1892 auf dem Juristentag die Notwendigkeit, «in der Neugestaltung des<br />

Strafrechts zwei sonst entgegengesetzte Standpunkte zu versöhnen». Dennoch beharrte er auch bei dieser<br />

Gelegenheit auf dem Primat einer regulativen Kriminalpolitik, dank der sich das «drohende Umsichgreifen<br />

des Verbrechen» steuern lasse. Ganz im Sinne der Reformbewegung forderte er als «erstes <strong>und</strong> oberstes<br />

kriminalpolitisches Postulat» eine «energischere Repression des Berufs- <strong>und</strong> Gewohnheitsverbrechertums».<br />

373 Bereits deutlich vorsichtiger als Zürcher bezog Gautier Stellung zur Kriminalanthropologie.<br />

Auch wenn er Garofalos Criminologia 1888 als «livre remarquable» bezeichnete, beschränkte er sich ansons-<br />

ten auf eine resümierende Darstellung einzelner kriminalanthropologischer Schriften. 374 Dass Gautier der<br />

Kriminalanthropologie dennoch wohlwollend gegenüber stand, zeigt sich darin, dass er 1910 zusammen<br />

mit Zürcher, dem jüngeren Strafrechtler Ernst Hafter (1876–1949) sowie mehreren Ärzten <strong>und</strong> Psychia-<br />

tern für ein Monument zu Ehren Lombrosos eintrat. 375 Hafter hatte seinerseits 1904 gefordert, den<br />

«Zweckbegriff» anstelle der «herkömmlichen Vergeltungs- <strong>und</strong> Sühneidee» zur Gr<strong>und</strong>lage eines modernen<br />

Strafgesetzbuchs zu machen. 376<br />

Im Gegensatz zu Zürcher <strong>und</strong> Gautier lehnte Stooss Lombrosos Verbrechertypus explizit ab, dennoch<br />

hielt auch er der scuola positiva zugute, dass sie der Strafrechtswissenschaft neue Perspektiven eröffnet habe:<br />

«Die Gr<strong>und</strong>lagen der Theorie Lombrosos erweisen sich als unhaltbar. Es gibt keinen Verbrecher von<br />

Geburt <strong>und</strong> es lassen sich Verbrechen nicht an dem Schädel <strong>und</strong> an dem Körper des Verbrechers de-<br />

monstrieren. Allein damit war auch der Bann gebrochen, der die Wissenschaft bislang dem Leben ent-<br />

fremdete, <strong>und</strong> man erkannte, dass nicht Begriffe, sondern der Zweck der Strafrechtspflege die Hauptsache<br />

ist.» 377 Wie von Liszt stellte Stooss die Begründung des Strafrechts aus dem Rechtsgüterschutz ins Zent-<br />

rum seiner Überlegungen: «Der Strafgesetzgeber betrachtet die Strafe stets als ein Mittel zum Schutz der-<br />

jenigen staatlichen, gesellschaftlichen <strong>und</strong> individuellen Interessen, die ihrer idealen oder wirtschaftlichen<br />

Bedeutung wegen dieses Schutzes würdig <strong>und</strong> bedürftig sind <strong>und</strong> die ohne denselben rechtswidrigen An-<br />

griffen <strong>und</strong> Gefährdungen preisgegeben wären.» 378 Stooss teilte das Credo der Reformbewegung, dass die<br />

Kriminalität mit dem geltenden Schuldstrafrecht nur unzureichend bekämpft werden könne. 379 Namentlich<br />

gegenüber Rückfälligen würden die «Misserfolge» des geltenden Strafsystems deutlich: «Es gibt wahr-<br />

haftig Menschen, die 130 <strong>und</strong> 140 Male im Gefängnis oder im Zuchthaus gesessen haben <strong>und</strong> die stets<br />

aufs neue vor dem Strafrichter erscheinen, um wieder einige Wochen, Monate oder [...] einige Jahre dahin<br />

zu gelangen.» 380 Für Stooss war klar, dass zur Bekämpfung solcher Zustände eine über die formale<br />

Rechtsvereinheitlichung hinausgehende Strafrechtsreform unumgänglich war. Im Gegensatz zu Refor-<br />

mern wie Ferri, von Liszt oder Zürcher wollte er dabei aber die Prinzipien des Schuldstrafrechts nicht<br />

preisgeben. Nicht zuletzt aus Rücksicht auf das «Gewissen des Volkes», das an den «ethischen Gr<strong>und</strong> der<br />

372 Zürcher, 1891, 11; Zürcher, 1892, 14. Mit dem Titel seines öffentlichen Vortrags an der Universität Zürich bezog sich Zürcher<br />

bewusst auf die erste Ausgabe von Ferris Sociologia criminale von 1881. Vgl. ebenfalls: Zürcher, 1892a, 526. Zu Zürchers Rezeption<br />

der kriminalanthropologischen Theorien <strong>und</strong> zu seiner Lehrtätigkeit: Holenstein, 1996, 117f., 264-290.<br />

373 Zürcher, 1892a, 512f., 517.<br />

374 Gautier, 1888, 348; Gautier 1892. Zur Rezeption der Kriminalanthropologie in der Romandie: Cordey, 1889; Zeller, 1991.<br />

375 «Comité suisse pour le monument à élever au professeur Cesare Lombroso», in: ZStrR, 23, 1910, 305; Holenstein, 1996, 263,<br />

296f.<br />

376 Hafter, 1904; vgl. Nägeli, 1988, 190f.<br />

377 Stooss, 1891, 249f.<br />

378 Stooss, 1891, 251.<br />

379 Vgl. Stooss, 1891, 249f., 257; Stooss, 1896, 278.<br />

380 Stooss, 1894b, 21.<br />

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