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Psychiatrie und Strafjustiz

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Allgemeinärzten abzugrenzen versuchten. Einen ersten Durchbruch erreichte dieser Spezialisierungspro-<br />

zess 1888 durch die Anerkennung der <strong>Psychiatrie</strong> als medizinisches Prüfungsfach. 73 Von einem Professio-<br />

nalisierungsprozess ist dabei nur insofern zu sprechen, als die <strong>Psychiatrie</strong> zur Ausweitung des Gegens-<br />

tandsbereichs der Medizin beitrug. Dies war beispielsweise dann der Fall, wenn medizinisch-psychiatrische<br />

Deutungsmuster, Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte traditionelle – in der Regel moralisch-<br />

juristische – Bewertungs- <strong>und</strong> Bewältigungsmassstäbe abweichenden <strong>und</strong> kriminellen Verhaltens verdräng-<br />

ten. Allerdings gelang die Ausdifferenzierung einer psychiatrischen Sachverständigenrolle im Bereich der<br />

Rechts- <strong>und</strong> Fürsorgepraxis nur deshalb, weil die Psychiater über das soziale Prestige einer bereits anerkannten<br />

Profession, der Medizin, verfügten. Angesichts seiner Mehrdimensionalität ist es fraglich, ob die-<br />

ser Prozess angemessen als «psychiatrische Professionalisierung» bezeichnet werden kann. Darüber hinaus<br />

ist nicht zu übersehen, dass sich – zumindest bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts – das Berufsbild<br />

der meisten Psychiater markant von demjenigen freiberuflich tätiger liberal professionals unterschied. Psychi-<br />

ater waren bis um die Jahrh<strong>und</strong>ertmitte von wenigen Ausnahmen abgesehen als staatlich besoldete An-<br />

staltsärzte tätig, deren berufliche Autonomie durch organisatorische Hierarchien <strong>und</strong> Bestimmungen ein-<br />

geschränkt wurde. Gerade bei Begutachtungsaufgaben <strong>und</strong> Zwangseinweisungen waren sie zudem direkt<br />

von den Vorgaben der Justiz- <strong>und</strong> Verwaltungsbehörden abhängig. Dieser Einwand verdeutlicht, dass sich<br />

das am (angelsächsischen) Modell freiberuflich tätiger professionals entwickelte Professionalisierungskonzept<br />

nur bedingt auf die seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wachsende Zahl von Armen-, Spital- <strong>und</strong> Kassen-<br />

ärzten übertragen lässt – <strong>und</strong> just zu dieser Ärztegruppe gehörte der Grossteil der Psychiater. 74<br />

Professionalisierungskonzepte stossen aber auch als Erklärungsansätze für die Entwicklungsdynamik der<br />

psychiatrischen Disziplin auf Grenzen. Die Annahme, dass sich die Entwicklung der <strong>Psychiatrie</strong> als suk-<br />

zessive Realisierung eines professional project betrachten lasse, tendiert letztlich zur Vorstellung eines durch<br />

die professionals intentional gesteuerten Expansionskurses. Hannes Siegrist hat zu Recht darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass Professionen keineswegs nur Subjekte, sondern auch Objekte von Professionalisierungsbe-<br />

strebungen sein können, etwa im Fall einer durch staatliche Behörden vorangetriebenen «Professionalisie-<br />

rung von oben». 75. Dem ist beizufügen, dass in einer funktionell differenzierten Gesellschaft die idealtypi-<br />

schen Kriterien der professionellen Autonomisierung <strong>und</strong> Monopolisierung empirisch kaum mehr einzu-<br />

holen sind. So setzte selbst eine ansatzweise Verwirklichung des von Schweizer Psychiatern wie Auguste<br />

Forel (1848–1931) <strong>und</strong> Eugen Bleuler (1857–1939) in den 1890er Jahren formulierten sozialreformeri-<br />

schen professional project die Kooperationsbereitschaft anderer Berufsgruppen sowie staatlicher <strong>und</strong> privater<br />

Institutionen voraus. Gerade am Beispiel der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> lässt sich aufzeigen, wie sich beruf-<br />

liche Praxisfelder erst durch strukturelle Koppelungen unterschiedlicher Bezugssysteme <strong>und</strong> Disziplinen<br />

zu konstituieren vermochten. Wie in Kapitel 7 diskutiert wird, lässt sich etwa die in der Schweiz nach 1890<br />

festzustellende Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis keineswegs durch einen einseitig von der<br />

<strong>Psychiatrie</strong> ausgehenden Expansionismus erklären. Analog zu der von Loetz vorgebrachten Kritik am<br />

Medikalisierungskonzept ist auch in diesem Zusammenhang eine Wechselseitigkeit vorauszusetzen. An-<br />

ders formuliert, auch im Fall des Professionalisierungsansatzes ist von einer an Foucault orientierten Kon-<br />

zeption sozialer Macht im Sinne relationaler Machtverhältnisse <strong>und</strong> (gegenläufiger) situativer Strategien<br />

auszugehen, die sich allenfalls in Form normativer Regelkomplexe oder sozialer Organisationen verdich-<br />

ten. 76 Es hiesse das Professionalisierungskonzept mit einem gehörigen Mass an Intentionalität zu über-<br />

73 Mayer, 1988.<br />

74 Vgl. Menzies, 2001, 132; Huerkamp, 1985, 177.<br />

75 Siegrist, 1988, 16.<br />

76 Vgl. Foucault, 1994; Foucault, 1977; Lemke, 1997, 104-109.<br />

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