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Psychiatrie und Strafjustiz

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vanzstruktur des politischen Systems räumte somit der staatspolitischen Frage der Rechtseinheit eindeutig<br />

einen höheren Stellenwert als der Kriminalpolitik ein. Sowohl die Befürworter, als auch die Gegner der<br />

Strafrechtsvorlage vermochten der Debatte ihre jeweilige Gesellschaftssemantik aufzupfropfen. Dabei<br />

stand die nationale Gemeinschaftssemantik, die die «Geistigen Landesverteidigung» in einer liberalen Vari-<br />

ante antizipierte, einem partikularistischen Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsverständnis gegenüber. Parteipoliti-<br />

scher verlief die Kluft zwischen dem Freisinn, der Bauern-, Gewerbe- <strong>und</strong> Bürgerpartei sowie den Sozial-<br />

demokarten auf der einen Seite <strong>und</strong> den Katholisch-Konservativen <strong>und</strong> Westschweizer Radikalen <strong>und</strong><br />

Liberalen auf der andern Seite. Abgesehen von der spezifischen Konstellation zwischen Deutschschweiz<br />

<strong>und</strong> Romandie entsprach diese Konfliktlinie weitgehend der Tradition des Kulturkampfs des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Der Kern der Befürworter rekrutierte sich aus einer Koalition aus Freisinn <strong>und</strong> Sozialdemokratie.<br />

Die Strafrechtsreform war damit eines der wenigen politischen Geschäften, das seit dem späten 19. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ert über den ersten Weltkrieg <strong>und</strong> die parteipolitische Polarisierung der Zwischenkriegszeit hinaus<br />

von einer sozialreformerischen Mitte-Links-Allianz vorangetrieben wurde. 1448 Sowohl den Sozialdemokra-<br />

ten, als auch der bürgerlichen Mehrheit bot die Strafrechtsdebatte Gelegenheit, sich auf einem politischen<br />

Feld anzunähern, das von wirtschaftspolitischen Kontroversen der späten 1930er Jahre kaum betroffen<br />

war. 1449 Gr<strong>und</strong>lage für diese Annäherung war das Bekenntnis zu einer regulativen Kriminalpolitik, die auf<br />

eine Kombination repressiver <strong>und</strong> kurativere Instrumente der sozialen Kontrolle abzielte.<br />

In Bezug auf die kriminalpolitischen Zielsetzungen der Strafrechtsreform bewirkte die Konstellation der<br />

Strafrechtsdebatte in der Zwischenkriegszeit eine gewisse Entschärfung. Bereits in der Parlamentsdebatte,<br />

jedoch spätestens im Abstimmungskampf verschwanden die kriminalpolitischen Gr<strong>und</strong>satzdebatten, wel-<br />

che am Anfang der schweizerischen Strafrechtsreform gestanden hatten, von der politischen Agenda.<br />

Allerdings wurde sowohl in der Parlamentsdebatte, als auch im Abstimmungskampf deutlich, dass<br />

Medikalisierungspostulate, die über den b<strong>und</strong>esrätlichen Entwurf hinausgingen, politisch kaum mehr<br />

Chancen auf Resonanz haben würden. Die Räte trugen denn auch verschiedenen Befürchtungen vor einer<br />

zu weitgehenden Medikalisierung des Strafrechts mit symbolischen Kompensationen Rechnung. Die<br />

Tendenz, prinzipiell vorhandene medizinische Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungsoptionen zugunsten<br />

traditioneller Repressionsinstrumente zurückzudrängen, entsprach in den 1930er Jahre einem breit<br />

abgestützten Konsens, der – wie in Kapitel 9.2 ausgeführt worden ist – sogar bis in die Schweizer<br />

<strong>Psychiatrie</strong> hineinreichte. Demnach sollte das Schuldprinzip, auf dem auch das künftige schweizerische<br />

Strafrecht beruhte, nach wie vor nur in eng begrenzten Ausnahmenfällen aufgeweicht werden. Dieser<br />

Trend sollte sich, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist, auch nach der Einführung des neuen<br />

Strafgesetzbuchs fortsetzen.<br />

1448 Vgl. zu dieser sozialreformerischen Kontinuität in der Schweizer Politik: Kunz/Morrandi, 1998.<br />

1449 Vgl. Soland, 1997, 230. Diese Annäherung fand sogar einen konkreten Niederschlag: Um die Zustimmung der Sozialdemokraten<br />

zum Strafgesetzbuch nicht zu gefährden, versuchte der freisinnige B<strong>und</strong>esrat Häberlin 1933 mit dem Sozialdemokraten Huber<br />

zu einer Absprache über die «Lex Häberlin II» zu gelangen; vgl. Soland, 1992, 167-170.<br />

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