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Psychiatrie und Strafjustiz

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senden) Bedarf seitens der <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> der Öffentlichkeit nach, kriminelles Verhalten medizinisch-<br />

wissenschaftlich auszudeuten. Gleichzeitig schufen sie mit einem solchen Strafwissen Optionen für die<br />

weitere Behandlung der betroffenen DelinquentInnen. Was das dargestellte Fallbeispiel anbelangt, sind in<br />

diesem Zusammenhang insbesondere drei Aspekte hervorzuheben:<br />

Erstens verdeutlicht der «Fall Binggeli» exemplarisch verschiedene <strong>und</strong> konkurrierende Sinnzusammenhänge, die<br />

der Gesellschaft der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zur Bewältigung schwerer Verbrechen zur Verfügung standen.<br />

Bereits kurz nach der Tat kursierte in der Öffentlichkeit <strong>und</strong> bei den Polizeibehörden das Gerücht, Bing-<br />

geli sei «geistesgestört» <strong>und</strong> die Mordtat demnach eine Folge seiner Krankheit. Parallel dazu entstand ein<br />

Deutungsmuster, das die Tat in den Kontext familiärer Streitigkeiten rückte <strong>und</strong> die Tat als Racheakt er-<br />

scheinen liess. Die vom zuständigen Untersuchungsrichter ernannten psychiatrischen Sachverständigen<br />

generierten eine weitere Deutung des Verbrechens. In ihren Augen handelte es sich bei Binggeli nicht um<br />

einen Geisteskranken, sondern um einen «abnormen Charakter», dessen Abnormität sich in der Un-<br />

zweckmässigkeit seiner Tat ausdrückte. Die Psychiater bezogen sich dabei auf Deutungsmuster, die nicht<br />

mehr auf ein monomanisches Aufblitzen einer Geistesstörung, sondern auf eine «abnorme» psychische<br />

Dauerverfassung fokussierten. Diese Diagnose bestritt wiederum der Direktor der Waldau, der bei Bing-<br />

geli eine «Dementia praecox», also eine eigentliche Geisteskrankheit, diagnostizierte. Dieses Geflecht von<br />

teilweise konkurrierenden Deutungsmustern steckten gleichsam ein diskursives Feld ab, in dem sich die<br />

Bewältigung der «Bluttat von Äckenmatt» durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Gesellschaft bewegen musste.<br />

Zweitens zeigt das Fallbeispiel, dass den psychiatrischen Deutungsmustern innerhalb dieser Palette von<br />

Sinnangeboten eine besondere Qualität zukam. Indem sie soziales Verhalten auf ein «abnormes» biologisches<br />

Substrat, respektive auf eine Geisteskrankheit zurückführten, kamen psychiatrische Deutungsmuster in<br />

ganz spezifischer Weise dem Deutungsbedarf seitens der Justizbehörden <strong>und</strong> einer breiteren Öffentlich-<br />

keit entgegen. Kriminelle Handlungen, die den Rahmen des gemeinhin Verständlichen sprengten, liessen<br />

sich mittels solcher Medikalisierungsstrategien rationalisieren <strong>und</strong> in den Raum des gesellschaftlich Denk-<br />

<strong>und</strong> Sagbaren integrieren. Die sinnbildende Funktion psychiatrischer Gutachten beschränkte sich dem-<br />

nach nicht auf die Rechtsfrage der Zurechnungsfähigkeit. Psychiatrischen Deutungsmustern kam darüber<br />

hinaus die Funktion eines Normalisierungswissens zu, das es erlaubte die Komplexität kriminellen Verhal-<br />

tens auf graduelle Abweichungen auf einer Normalitätsskala zu reduzieren. Die Beurteilung Binggelis<br />

durch die Sachverständigen verdeutlicht, wie aus einem solchen Reduktionsverfahren ein «Wegschneiden<br />

des Inkommensurablen» (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) resultieren konnte, das heisst ein weit-<br />

gehendes Ausblenden der ambivalenten sozialen Beziehungsgeflechte, in denen die begangene Straftat<br />

eingebettet war. 884<br />

Drittens: Aufgr<strong>und</strong> ihres Status als Sachverständige erhielten die Deutungen der Psychiater ein gewisses<br />

Privileg gegenüber alternativen Sinnangeboten. Allerdings zeigt der «Fall Binggeli» eindrücklich, dass psy-<br />

chiatrische Deutungsmuster Gegenstand eines komplexen <strong>und</strong> tendenziell offenen Aushandlungsprozesses waren, an<br />

dem verschiedene Akteure beteiligt waren <strong>und</strong> der von den psychiatrischen Sachverständigen nur bedingt<br />

kontrolliert werden konnte. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel 7.6 zurückzukommen sein. Im «Fall Bing-<br />

geli» trieben vor allem die Untersuchungsbehörden <strong>und</strong> die Verteidigung den Prozess der psychiatrischen<br />

Sinnbildung voran. Unterstützung erhielt Binggelis Verteidiger durch die Kriminalkammer. Die Interpreta-<br />

tion der Mordtat als strafwürdiges Verbrechen, die schliesslich Eingang in das Urteil fand, oblag den Geschworenen,<br />

die der Bitte des Angeklagten folgten, ihn ins Zuchthaus statt ins Irrenhaus zu versetzen.<br />

Binggelis Intervention in der Schlussphase des Prozesses, die auf einer subjektiven Kosten-Nutzen-<br />

884 Zum «Wegschneiden des Inkommensurablen»: Horkheimer/Adorno, 1969 (1944), 18f.<br />

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