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Psychiatrie und Strafjustiz

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gerechtfertigte Einweisung ins Arbeitshaus. Gemäss einer Historienbibel, die ihm seine Schwester gezeigt<br />

hatte, sei er dazu bestimmt, «im europäischen Krieg Kaiser zu werden». Dazu werde ihm Arnold Winkel-<br />

ried persönlich in der Neujahrsnacht 1900 die Gewalt verleihen, die vier Monarchen, welche die Schweiz<br />

bekriegen wollten, zu besiegen. Als Kaiser werde er aus seinem Guthaben gegenüber der Gemeinde<br />

Oberburg die Schulden der Schweiz bezahlen. In seiner Vorstellungswelt wollte Andreas F. dank der<br />

Brandstiftung zu seinem Recht kommen, um die ihm zugedachte Bestimmung endlich erfüllen zu können.<br />

Die Psychiater qualifizierten die Gedankengänge von Andreas F. dagegen als «Wahnideen», die ihren Ur-<br />

sprung in «abergläubischen Vorstellungen» wie der Geschichte mit der Historienbibel hatten <strong>und</strong> diagnostizierten<br />

eine «chronische Verrücktheit mit Verfolgungs- <strong>und</strong> Grössenwahnideen». Der Begriff der «Ver-<br />

rücktheit» gehörte noch zum traditionellen psychiatrischen Vokabular des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts; erst in Krae-<br />

pelins Systematik sollten die entsprechenden Krankheitsbilder unter den Begriffen «Paranoia» oder der<br />

«Dementia paranoides» subsumiert werden. In den Augen der Sachverständigen war die Brandstiftung von<br />

Andreas F. eine direkte Folge dieser «Wahnideen»: «Die Brandlegung selbst aber begreift sich nur aus dem<br />

Wahnsystem F.’s <strong>und</strong> ein anderes Motiv dafür ist gar nicht vorhanden [...] Die Wahnvorstellungen haben<br />

F. getrieben, Feuer zu legen, um hierdurch seinen wahnhaften Zielen näher zu kommen; seine gemütliche<br />

Verrohung <strong>und</strong> Urteilsschwäche erleichterten ihm wesentlich die Ausführung der Tat[...].» Ähnlich wie im<br />

Fall von Christian Binggeli postulierte das Gutachten eine Kausalität zwischen Krankheit <strong>und</strong> Verbrechen<br />

<strong>und</strong> lieferte damit eine stringente Deutung der Tat. Mit dem Hinweis, dass die «Wahnvorstellungen» And-<br />

reas F. zur Tat «gedrängt» hatten, wurde zugleich dessen freie Willensbestimmung <strong>und</strong> damit die Zurech-<br />

nungsfähigkeit ausgeschlossen.<br />

Die Schlussfolgerungen der Psychiater über Andreas F. <strong>und</strong> Friedrich H. unterschieden sich nicht nur in<br />

Bezug auf die Diagnose, sondern auch in Bezug auf das diskursive Muster, mit dem sie ihre Diagnosen<br />

<strong>und</strong> die begangenen Straftaten aufeinander bezogen. 899 Postulierten die Psychiater im Fall von Andreas F.<br />

eine direkte Kausalität zwischen Krankheit <strong>und</strong> Tat, so liessen sie den Krankheitsbef<strong>und</strong> von Friedrich H.<br />

gewissermassen im Raum stehen. Einen Sinnzusammenhang zwischen der begangenen Tat <strong>und</strong> der diag-<br />

nostizieren Krankheit stellten sie nur insofern her, als sie das Verhalten von Friedrich H. nach dem Trep-<br />

pensturz des Kindes rekapitulierten: «Jetzt wird F. H. von Schrecken gepackt, dass das Kind so stark blu-<br />

tet <strong>und</strong> namentlich schreit. Er sucht das Blut zu stillen <strong>und</strong> beschwört es zu schweigen. Das hilft aber<br />

nichts <strong>und</strong> neben dem Schrecken tritt nun auch der Ärger <strong>und</strong> Zorn auf, dass ihm das begegnet ist, ja das<br />

Kind ihm das angetan hat <strong>und</strong> ausserdem die Furcht, es könnte ihn als Täter verraten. So drängt sich ihm<br />

der Gedanke auf, den einzigen Zeugen seiner Tat aus dem Wege zu schaffen <strong>und</strong> er gibt dem Kinde die<br />

beiden Streiche mit dem schweren Stein.» Darüber, wie das «Aufdrängen» der Tat mit der diagnostizierten<br />

«Dementia praecox» zusammenhing, schwiegen sich die Sachverständigen aber aus <strong>und</strong> beriefen sich<br />

stattdessen wiederholt auf die auch für Laien offenk<strong>und</strong>ige Geisteskrankheit von Friedrich H.: «Wir gehen<br />

nicht weiter. Es ergibt sich aus alledem zur Genüge, dass F. H. schwer geisteskrank ist <strong>und</strong> zwar seit länge-<br />

rer Zeit.». 900 Die Annahme einer auch für Laien ersichtliche Krankheitsevidenz machte in den Augen der<br />

Sachverständigen jede weitere Diskussion über die Verbindung zwischen Tat <strong>und</strong> Krankheit <strong>und</strong> damit<br />

über die Frage der Zurechnungsfähigkeit obsolet. Sie folgten damit dem bereits zitierten Diktum Eugen<br />

899 Nicht zu diskutieren ist hier die die Frage, ob die Sachverständigen im Zeitpunkt der Begutachtung von Friedrich H. in der<br />

«Verrücktheit» von Andreas F. ebenfalls eine Unterform der «Dementia praecox» diagnostiziert hätten. Vgl. zur zeitgenössischen<br />

Abgrenzung der «Paranoia» («Verrücktheit») von der «Dementia praecox»: Hoff, 1994, 126-142; Kraepelin 1899, II, 182, 430-431;<br />

Bleuler, 1911, 188-191, 257.<br />

900 UPD KG 9017, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich H., 17. April 1920.<br />

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