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Psychiatrie und Strafjustiz

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seits wichtige Voraussetzungen darstellten, dass die kriminalpolitischen Forderungen der Schweizer Irren-<br />

ärzte ausserhalb der Disziplin auf Resonanz stossen konnten. Kapitel 4.3 untersucht schliesslich konkreten<br />

die Interventionen des Vereins schweizerischer Irrenärzte im Rahmen der Strafrechtsdebatte.<br />

4.1 Strafrechtseinheit <strong>und</strong> Strafrechtsreform in der Schweiz<br />

Das bürgerliche Strafrecht setzte sich in der Schweiz auf dem Weg der kantonalen Strafgesetze durch, die<br />

sich an deutschen <strong>und</strong> französischen Kodifikationen orientierten. Einzelne katholische Landkantone ver-<br />

fügten allerdings noch bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein über keine eigenen Strafgesetzbücher. 346 Dieser straf-<br />

rechtliche Partikularismus, dem erst das schweizerische Strafgesetzbuch von 1942 ein Ende setzte, war<br />

eine Folge der föderalistischen Struktur des B<strong>und</strong>esstaates von 1848. Zwar sah der von der freisinnigen<br />

Parlamentsmehrheit unter dem Slogan «eine Armee, ein Recht» propagierte Verfassungsentwurf von 1872<br />

die Vereinheitlichung des gesamten Privat- <strong>und</strong> Strafrechts vor. Diese Vorlage scheiterte jedoch am Wi-<br />

derstand der Romandie <strong>und</strong> der katholischen Innerschweiz. Die im zweiten Anlauf angenommene Bun-<br />

desverfassung von 1874 beschränkte daraufhin in Artikel 64 die Rechtseinheit auf einzelne Gebiete des<br />

Privatrechts <strong>und</strong> beliess den Kantonen die Strafgerichtsbarkeit. Aufgr<strong>und</strong> dieser Kompetenzverteilung<br />

erliess der B<strong>und</strong> 1875 ein Zivilstandsgesetz, in den 1880er Jahren folgten das Obligationenrecht sowie das<br />

Schuldbetreibungs- <strong>und</strong> Konkursgesetz. 347 Einen Rückschlag erfuhren die Einheitsbestrebungen dagegen<br />

durch die Wiederzulassung der Todesstrafe im Jahre 1879. 348<br />

Die Strafrechtseinheit rückte erst nach dem Abflauen der «Referendumsstürme» Mitte der 1880er Jahre<br />

wieder ins Zentrum des politischen Interesses. 349 Mit der Konsolidierung der Referendumsdemokratie<br />

griffen die auf B<strong>und</strong>esebene tonangebenden Radikalen <strong>und</strong> Demokraten das Postulat einer umfassenden<br />

Rechtseinheit wieder auf. Für sie bedeutete die Strafrechtseinheit einen Beitrag zur Weiterentwicklung des<br />

B<strong>und</strong>esstaats in Richtung eines modernen Rechts- <strong>und</strong> Sozialstaats, der mittels einer «kurativen Sozialpoli-<br />

tik» (Hansjörg Siegenthaler) den desintegrierenden Tendenzen einer sich rasch wandelnden Gesellschaft<br />

entgegenwirken sollte. 350 Ähnlich wie die b<strong>und</strong>esweite Fabrik- <strong>und</strong> Haftpflichtgesetzgebung wurde auch<br />

die Strafrechtseinheit massgebend von reformfreudigen (Rechts-)Experten <strong>und</strong> radikal-demokratischen<br />

Politikern vorangetrieben. 351 Juristen, Vertreter des Strafvollzugs <strong>und</strong> Ärzte versprachen sich von einer<br />

Vereinheitlichung des Strafrechts nicht nur Impulse für die nationale Integration, sondern auch eine Chan-<br />

ce, um das geltende Schuldstrafrecht im Hinblick auf eine effizientere Verbrechensbekämpfung umzuges-<br />

talten. Diese Verbindung von Vereinheitlichungs- <strong>und</strong> Reformbestrebungen entsprach der spezifisch<br />

schweizerischen Variante der in Kapitel 3 beschriebenen strafrechtlichen Lernprozesse, die ausgehend von<br />

der konstatierten Ineffizienz des bürgerlichen Schuldstrafrechts neue kriminalpolitische Leitideen hervor-<br />

brachten.<br />

Der Umstand, dass in der Schweiz die Strafrechtsreformdebatte eng mit der Problematik der Rechtsein-<br />

heit verb<strong>und</strong>en war, wirft die Frage auf, inwieweit sich diese staats- <strong>und</strong> kriminalpolitischen Lernprozesse<br />

gegenseitig bedingten. Wie in diesem Unterkapitel gezeigt werden soll, gingen die Schweizer Strafrechtsre-<br />

former davon aus, dass sich die Ziele der internationalen Reformbewegung hierzulande nur über den Weg<br />

346 Vgl. Stooss, 1892/93; Stooss, 1890; Zürcher, 1882; Pfenninger, 1890.<br />

347 Vgl. Tanner, 1998; Ruffieux, 1986, 670-685, Greyerz, 1980, 1071-1091.<br />

348 Vgl. Widmer, 1992, 200-208.<br />

349 Eine Übersicht über die Bemühungen zur Vereinheitlichung des Strafrechts bietet die Botschaft des B<strong>und</strong>esrats zur Einführung<br />

der Rechtseinheit, 28. November 1896, in: BBl, 1896 IV, 733-790, hier 737-744.<br />

350 Vgl. Caroni, 1999, 138-146; Siegenthaler, 1997, 17-19; Widmer, 1992, 504-510, 576-579. Zur demokratischen Bewegung in der<br />

Schweiz: Schaffner, 1982.<br />

351 Vgl. in Bezug auf die Fabrikgesetzgebung: Siegenthaler, 1997. Zur Entstehung der Sozialpolitik auf B<strong>und</strong>esebene:<br />

Kunz/Morrandi, 1998, 149-152; Studer, 1998.<br />

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