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Psychiatrie und Strafjustiz

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kriminalanthropologischen Wissens in bestehende psychiatrische Deutungsmuster wie die dégénérescence<br />

oder die «psychopathischen Zustände» zu integrieren.<br />

Französische Ärzte wie der Lyoner Gerichtsmediziner Alexandre Lacassagne (1843–1924) bekämpften vor<br />

allem Lombrosos Atavismustheorie, die in ihren Augen mit dem Paradigma eines sich über mehrere Ge-<br />

nerationen erstreckenden Degenerationsprozesses kollidierte. Auf dem kriminalanthropologischen Kon-<br />

gress in Rom von 1885 stellte Lacassagne die sozialen Ursachen des Verbrechens in den Vordergr<strong>und</strong>, da<br />

die Annahme eines biologischen Determinismus zu einem Fatalismus führen müsse. In Anlehnung an die<br />

Bakteriologie bezeichnete er die Gesellschaft als «Nährboden» des Verbrechens, den Verbrecher dagegen<br />

als «Erreger»; jede Gesellschaft habe folglich die Verbrecher, die sie verdiene. Lacassagne formulierte da-<br />

mit Erklärungsansätze kriminellen Verhaltens, die sich auf den ersten Blick deutlich von den Deutungs-<br />

mustern der italienischen Kriminalanthropologen unterschieden. 257 Lacassagnes Abgrenzungsversuch darf<br />

allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass sich seine eigene Forschungspraxis ebenfalls weitgehend an<br />

biologischen Erklärungsansätzen wie der Phrenologie Galls oder der Degenerationstheorie orientierte. Für<br />

Lacassagne wie für die Psychiater Magnan <strong>und</strong> Féré blieb die Degenerationstheorie das wichtigste Deutungsmuster<br />

kriminellen Verhaltens. 258 Eine Neuauflage erfuhr die französische Lombroso-Kritik anläss-<br />

lich des zweiten Kongresses 1889 in Paris, als der Kriminalstatistiker Gabriel Tarde (1843–1904) <strong>und</strong> die<br />

Anthropologen Léonce Manouvrier (1850–1927) <strong>und</strong> Paul Topinard (1830–1911) die Existenz eines spe-<br />

ziellen anthropologischen Verbrechertypus erneut in Frage stellten, worauf der Kongress die Einsetzung<br />

einer Kommission zur vergleichenden Untersuchung straffälliger <strong>und</strong> nicht krimineller Probanden be-<br />

schloss, welche jedoch zu keinem Abschluss gelangte. 259<br />

Auch im deutschsprachigen Raum fand Lombrosos Atavismustheorie nur vereinzelte Anhänger wie etwa<br />

den Psychiater Hans Kurella (1858–1916) oder den Kulturkritiker Max Nordau (1849–1923). 260 Allerdings<br />

hielt hier im Gegensatz zu Frankreich eine Gruppe namhafter Psychiater wie Emil Kraepelin, Julius Au-<br />

gust Koch oder Eugen Bleuler an der Existenz eines «geborenen Verbrechers» fest, wobei sie diesen aber<br />

nicht als anthropologische Varietät, sondern als psychopathologischer Typus verstanden. 261 Nachdem<br />

Kraepelin bereits 1884 die Existenz eines speziellen Verbrechertypus anerkannt hatte, integrierte er diesen<br />

sukzessive in das Konzept des «moralischen Irreseins» <strong>und</strong> der «psychopathischen Persönlichkeit». Noch<br />

1904 stellte er fest, dass Lombrosos Verbrechertypus ein «durchaus brauchbarer Kern» zugr<strong>und</strong>e liege <strong>und</strong><br />

dass «es Formen der Veranlagung gibt, die unter den bei uns herrschenden Lebensbedingungen mit einer<br />

gewissen Notwendigkeit zum Kampf gegen die Gesellschaftsordnung getrieben werden». 262 Wie bereits<br />

Krafft-Ebing so nahm auch Kraepelin als Ursache einer solchen «angeborenen Gemütlosigkeit» eine «psy-<br />

chopathische Entartung» an, die dazu führe, dass die betroffenen Individuen weder gesellschaftlichen<br />

Wertvorstellungen, noch der abschreckenden Wirkung einer Strafe zugänglich seien. Auch wenn Kraepe-<br />

lin, Koch <strong>und</strong> Bleuler keinen absoluten biologischen Determinismus vertraten, so postulierte sie doch,<br />

dass kriminelles Verhalten in Einzelfällen auf rein anlagebedingte Ursachen zurückgeführt werden könne.<br />

Richard Wetzell hat jüngst gezeigt, dass diese Position in der deutschsprachigen <strong>Psychiatrie</strong> um 1900 kei-<br />

neswegs unbestritten war. Gefängnisärzte <strong>und</strong> Psychiater wie Abraham Baer (1834–1908), Paul Näcke<br />

257 Nye, 1984, 103-106.<br />

258 Vgl. Mucchielli, 1994a; Renneville, 1994a.<br />

259 Gadebusch Bondio, 1995, 125-127; Renneville, 1994a, 118-124; Nye, 1984, 106-109. Der Verzicht der Kommissionsmehrheit<br />

auf die Fertigstellung dieser vergleichenden Studie führte 1892 zum Boykott des dritten kriminalanthropologischen Kongresses<br />

durch die Italiener.<br />

260 Gadebusch Bondio, 1995, 104-108, 121f.; Aschheim, 1993.<br />

261 Kraepelin, 1885; Koch, 1894; Bleuler, 1896. Vgl. Wetzell, 2000, 52-71; Gadebusch Bondio, 1995.<br />

262 Kraepelin, 1904 II, 818.<br />

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