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Psychiatrie und Strafjustiz

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dagegen in forensisch-psychiatrischer Hinsicht eine untergeordnete Rolle. Vor allem in den Kriegsjahren<br />

begutachteten die Berner Psychiater eine beträchtliche Zahl von Militärpersonen, die wegen Verstösse<br />

gegen das Militärstrafrecht in Untersuchung standen. 715<br />

Aussagen über den Stellenwert der Berner Anstalten im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> erlaubt der<br />

Vergleich mit andern Anstalten. Im Zürcher Burghölzli wurden zwischen 1881 <strong>und</strong> 1895 jährlich knapp<br />

neun Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit erstellt. .716 In der Waldau waren dies im annähernd glei-<br />

chen Zeitraum (1885–1895) jährlich knapp elf Gutachten. Nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende übertraf die Gut-<br />

achtertätigkeit der Zürcher Psychiater diejenige ihrer Berner Kollegen dann aber deutlich. Zwischen 1906<br />

<strong>und</strong> 1910 erstatteten die Ärzte des Burghölzli jährlich durchschnittlich 27, zwischen 1911 <strong>und</strong> 1915 bereits<br />

36 <strong>und</strong> zwischen 1916 <strong>und</strong> 1920 schliesslich 54 Gutachten. 717 Im Kanton Zürich kamen dazu noch die<br />

Gutachten der Anstalt Rheinau. Im Vergleich zu den Universitätskantonen Bern <strong>und</strong> Zürich fiel die foren-<br />

sisch-psychiatrische Praxis im Kanton Aargau bescheidener aus. Trotzdem lässt sich auch hier eine ähnli-<br />

che, wenngleich zeitlich etwas verschobene Entwicklung feststellen. Zwischen 1896 <strong>und</strong> 1910 erstellten<br />

die Ärzte der Anstalt Königsfelden jährlich etwa sechs Gutachten. Zwischen 1911 <strong>und</strong> 1915 stieg dieser<br />

Durchschnitt auf 13, zwischen 1916 <strong>und</strong> 1920 auf 17 Gutachten pro Jahr. 718<br />

Dieses Datenmaterial belegt, dass sich die Waldau bereits in den 1890er Jahren als bedeutendes Zentrum<br />

der praktischen Forensik etablierte, das einen Vergleich mit dem Burghölzli nicht zu scheuen brauchte.<br />

Die Zunahme der Begutachtungspraxis nach 1900 fiel dann allerdings gemässigter als in Zürich aus. Der<br />

Vergleich mit Königsfelden zeigt dagegen, dass sich die Entwicklung in mittelgrossen Deutschschweizer<br />

Kantonen mit derjenigen im Kanton Bern, der über eine Universität <strong>und</strong> mehrere psychiatrische Anstalten<br />

verfügte, vergleichen lässt. Die Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis seit den 1890er Jahren<br />

war ebenfalls nicht auf die Schweiz beschränkt. So fand in dieser Zeit in Preussen praktisch eine Verdop-<br />

pelung der psychiatrischen Begutachtungen von StraftäterInnen statt. 719 Ähnliche Bef<strong>und</strong>e liegen auch für<br />

die psychiatrische Begutachtungspraxis in der bayerischen Armee vor. 720 Parallel zu den im letzten Drittel<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzenden kriminalpolitischen Lernprozessen lässt sich somit auch in der Justiz-<br />

praxis eine Tendenz zu einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens feststellen. Diese lässt sich<br />

indes nicht durch Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen erklären, sondern ist in erster Linie<br />

darauf zurückzuführen, dass die Justizbehörden die bestehenden Handlungsspielräume in spezifischer<br />

Weise nutzten <strong>und</strong> in einem wachsenden Ausmass auf die Begutachtungskompetenzen der <strong>Psychiatrie</strong><br />

zurückgriffen. Die Beweggründe <strong>und</strong> Umstände dieser zunehmenden Aufgeschlossenheit gegenüber psy-<br />

chiatrischen Erklärungsmustern werden in Kapitel 7.2 ausführlich diskutiert.<br />

Der Anteil der Frauen an den im Kanton Bern begutachteten Personen schwankte in den untersuchten<br />

Fünfjahresperioden zwischen 11,1% <strong>und</strong> 22,3%, ohne dass dabei ein eigentlicher Trend zum Ausdruck<br />

kommen würde. In Bezug auf die ganze Untersuchungsperiode betrug der Frauenanteil 16,7% <strong>und</strong> ent-<br />

spricht damit ungefähr den Angaben in der Dissertation Franz Steigers von 1901 (18,8%). Etwas höher<br />

715 Andere zeitgenössische Angaben zu den Gutachten der Berner Irrenanstalten liegen nur vereinzelt vor. Gemäss der 1901<br />

publizierten Dissertation von Franz Steiger erstatteten die Ärzte der Waldau zwischen 1883 <strong>und</strong> 1900 144 Gutachten (Steiger,<br />

1901, 8). Die Jahresberichte wiesen für die gleichen Jahre dagegen 158 Gutachten aus. Diese Differenz erklärt sich möglicherweise<br />

durch die lückenhafte Überlieferung der Gutachten im Klinikarchiv, auf das sich Steiger gestützt hat. Die Direktion von Münsingen<br />

veröffentlichte schliesslich 1927 eine Zusammenstellung der seit 1895 verfassten Gutachten, die jedoch keine Angaben über<br />

die jährlichen Gutachtenzahlen enthält; vgl. Jb. Waldau, 1927, 37.<br />

716 Kölle, 1896, 9-12.<br />

717 Manser, 1932, 8f.; Maier 1931.<br />

718 Jb. Königsfelden, 1896–1920. Vergleichbare Daten aus der Basler Friedmatt liegen nicht vor.<br />

719 Wetzell, 2000, 79.<br />

720 Lengwiler, 2000, 236-239.<br />

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