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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Situation in Deutschland ist aber auch ein Beispiel dafür, dass Ansätze zu einer Spezialisierung im<br />

Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> in erster Linie vom Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzug <strong>und</strong> weniger von<br />

der Begutachtungspraxis oder dem universitären Bereich ausgehen konnten. 1222 Dies etwa im Gegensatz<br />

zur französischen Hauptstadt, wo sich Spezialisierungstendenzen im Bereich der psychiatrie légale vor allem<br />

im Umfeld des Dépôt de la préfecture de police, also im Begutachtungsbereich, abzeichneten. 1223 Zu einer weite-<br />

ren institutionellen Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> kam es in Deutschland mit der Errich-<br />

tung «Kriminalbiologischer Dienste» an bayerischen, württembergischen, sächsischen <strong>und</strong> preussischen<br />

Strafanstalten in der Weimarer Republik. In diesem Fall gingen wesentliche Impulse vom Bereich des<br />

regulären Strafvollzugs aus. In Bayern gab 1923 die Einführung eines progressiven Stufenstrafvollzugsystems<br />

den Anlass für die Institutionalisierung des «Kriminalbiologischen Dienstes», wobei der belgische<br />

Service d’anthropologie pénitentiaire als Vorbild diente. «Kriminalbiologische Dienste» sollten den Strafvoll-<br />

zugsbehörden ermöglichen, zuverlässig zwischen «besserungsfähigen» <strong>und</strong> «unverbesserlichen» Häftlingen<br />

zu unterscheiden <strong>und</strong> den Strafvollzug entsprechend auszugestalten. Den beteiligten Psychiatern bot sich<br />

im Gegenzug die Möglichkeit, eine grosse Zahl von DelinquentInnen nach einheitlichen Kriterien zu un-<br />

tersuchen <strong>und</strong> die dabei gewonnen Daten in einer zentralen Kartei zu erfassen. Das NS-Regime fasste die<br />

«Kriminalbiologischen Dienste» der einzelnen Länder, welche zunächst einer Rationalisierung des Straf-<br />

vollzugs, dann aber zunehmend der erbbiologischen Erfassung von StraftäterInnen dienten, 1937 zu einer<br />

reichsweiten Organisation zusammen. Mit der Verankerung im Strafvollzug ging die wissenschaftliche<br />

Konsolidierung der «Kriminalbiologie» einher. Ein Meilenstein dazu bildete 1927 die Gründung der Krimi-<br />

nalbiologischen Gesellschaft durch namhafte Kriminologen <strong>und</strong> Kriminalpsychiater. Die deutsche «Kriminal-<br />

biologie» führte dabei die von Kraepelin <strong>und</strong> Aschaffenburg begründete Forschungstradition weiter, wel-<br />

che auf die Konstituierung eines spezialisierten <strong>und</strong> zugleich verallgemeinerten kriminalpsychiatrischen<br />

Wissens abzielte. 1224<br />

Schwankende Positionen: Die Schweizer Psychiater <strong>und</strong> die Debatte um eine Verwahrungsan-<br />

stalt in der Schweiz 1893–1912<br />

Bis zum Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hinein bestanden in den Deutschschweizer Kantonen keine speziali-<br />

sierten forensisch-psychiatrischen (Verwahrungs-)Institutionen. Dementsprechend wurden die zu verwah-<br />

renden DelinquentInnen meist in regulären Irren- oder Strafvollzugsanstalten untergebracht. Dieses Insti-<br />

tutionalisierungsdefizit soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die Schweizer Psychiater mit<br />

ähnlichen Problemen konfrontiert sahen wie ihre ausländischen Fachkollegen. Entsprechende Diskussio-<br />

nen fanden in der Schweiz statt, ohne dass daraus jedoch eine institutionelle Lösung resultiert wäre. Die<br />

Debatte um die Lösung des Verwahrungsproblems war in der Schweiz eng mit der um 1890 einsetzenden<br />

Strafrechtsdebatte verb<strong>und</strong>en. Stand in dieser Debatte zunächst die in Kapitel 4.32 behandelte Frage des<br />

Verhältnisses von Strafen <strong>und</strong> sichernden Massnahmen im Vordergr<strong>und</strong>, so verlagerte sich die Debatte<br />

nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zunehmend auf Vollzugsfragen. Als unmittelbar betroffene Disziplin gehörten<br />

die Schweizer Psychiater dabei wiederum zu den wichtigsten Diskursteilnehmern. Bereits in den<br />

1890er Jahren lassen sich erste Überlegungen von psychiatrischer Seite ausmachen, wie «verbrecherische<br />

1222 Auf die forensische <strong>Psychiatrie</strong> spezialisierte Lehrstühle existierten an deutschen Universitäten – entgegen Dieckhöfer, 1984,<br />

103, Fussnote 13 – vor dem Ersten Weltkrieg nicht. Auskünfte der Universitätsarchive Heidelberg <strong>und</strong> Giessen an den Verfasser<br />

vom 18. <strong>und</strong> 25. Mai 2000.<br />

1223 Vgl. Harris, 1989, 138-147.<br />

1224 Vgl. Simon, 2001; Wetzell, 2000, 128-142, 183-185; Liang, 1999; Simon, 1999; Rothmaler, 1999. Zur Einrichtung des «Kriminalbiologischen<br />

Dienstes» in Bayern: Viernstein, 1926. 1926 besuchte der Schweizer Strafrechtler Hans Felix Pfenninger (1886–<br />

1969) den «Kriminalbiologischen Dienst» in der Strafanstalt Straubing <strong>und</strong> würdigte in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht<br />

deren «hohe Bedeutung für die Verbrechensbekämpfung», vgl. ZStrR, 39, 1926, 270-272. Eine Synthese erfuhr die deutsche «Kriminalbiologie»<br />

durch Exner, 1939.<br />

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