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Psychiatrie und Strafjustiz

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estimmung überhaupt leugnen <strong>und</strong> daher genötigt sein, seiner wissenschaftlichen Überzeugung zuwider<br />

die Freiheit des Willens im Sinne des Gesetzes vorauszusetzen oder sie in jedem Fall zu verneinen. Das<br />

eine ist so unbefriedigend wie das andere. Ist es möglich, die Zustände, welche Unzurechnungsfähigkeit<br />

bedingen, mit genügender Bestimmtheit <strong>und</strong> erschöpfend zu bezeichnen, so wird eine solche umschrei-<br />

bende Bestimmung für die Praxis den Vorzug vor einer analytisch-psychologischen Definition verdie-<br />

nen.» 536<br />

Die Kontroverse um die Definition der Zurechnungsfähigkeit<br />

Mit der Übernahme der in Chur verabschiedeten Definition in den Vorentwurf von 1893 konnten die<br />

Schweizer Irrenärzte einen ersten Erfolg verbuchen. Innerhalb der Expertenkommission von 1893 stiess<br />

die medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit dann allerdings auf erbitterten Widerstand seitens<br />

der Kritiker des Vorentwurfs. Aus der Diskussion über die Definition der Zurechnungsfähigkeit erwuchs<br />

eine eigentliche Gr<strong>und</strong>satzdebatte zwischen progressiven <strong>und</strong> konservativen Strafrechtlern. 537 Angesichts<br />

der Heftigkeit dieser Kontroverse stellt sich die Fragen nach den Interessen <strong>und</strong> Motiven, welche die dar-<br />

an beteiligten Akteure mit der Definition der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> der Normierung der Koppe-<br />

lungsbedingungen zwischen <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong> verbanden. Zu diskutieren ist in diesem Zusam-<br />

menhang vor allem die bereits von Zeitgenossen <strong>und</strong> ansatzweise auch in der historischen Forschung<br />

vertretene These, wonach es sich bei dieser Debatte um eine Neuauflage der Kompetenzstreitigkeiten<br />

zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern in der Tradition der «Grenzdispute» der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-<br />

derts gehandelt habe. 538 Damit verb<strong>und</strong>en ist die Frage nach dem Stellenwert der Zurechnungsfähigkeitsdebatte<br />

im Hinblick auf die Realisierung des von Forel, Bleuler <strong>und</strong> andern Psychiatern skizzierten dis-<br />

ziplinären Projekts einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens.<br />

Pointiert auf den Punkt gebracht haben diese Interpretation der Debatte zum ersten Mal die selbst invol-<br />

vierten Berner Strafrechtler Xaver Gretener <strong>und</strong> Philipp Thormann. Die Bedenken, die Gretener in der<br />

Expertenkommission von 1893 äusserte, waren zum einen begrifflicher Art, zum anderen erwartete er von<br />

einer medizinischen Definition Erschwernisse für Arbeit der Justizbehörden, da diesen dann Kriterien für<br />

die rechtliche Würdigung des Sachverständigengutachtens fehlen würde. Ebenfalls kritisierte er, dass eine<br />

medizinische Definition zu einer ungerechtfertigten Ausweitung der Exkulpationspraxis führen müsse,<br />

«denn nicht jede krankhafte Störung der Geistestätigkeit hebt an <strong>und</strong> für sich die Zurechnungsfähigkeit<br />

auf». 539 In einer 1897 zum Thema veröffentlichten Monographie warnte er dann offen vor einer Auswei-<br />

tung der ärztlichen Kompetenzen auf Kosten der Juristen: «Damit [mit der Verwirklichung des Vorent-<br />

wurfs von 1893] wäre denn der unglückliche Rangstreit zwischen Arzt <strong>und</strong> Richter für den Herrschaftsbe-<br />

reich des künftigen Schweizerischen Strafgesetzbuchs zu Gunsten des ersteren entschieden, die ganze<br />

Frage [der Zurechnungsfähigkeit] der ärztlichen Wissenschaft überliefert!» 540 Ähnlich lauteten Thormanns<br />

Argumente in der zweiten Expertenkommission von 1912: «Der Begriff der Geisteskrankheit [ist] ein<br />

medizinischer <strong>und</strong> deshalb kein feststehender [...]. Es hängt also vom dem einzelnen Gutachter ab, wie<br />

entschieden wird. An dessen Gutachten ist der Richter nach dem Vorentwurf geb<strong>und</strong>en [...]. Die Frage der<br />

freien Beweiswürdigung [des Gerichts] spielt hier hinein, an die man nicht rühren darf. Die Fassung des<br />

Vorentwurfs greift aber in diese freie Beweiswürdigung ein, denn sie stellt eine Beweistheorie auf für die<br />

536 VE 1893, 22 (Art. 8).<br />

537 Holenstein, 1996, 396; Gschwend, 1994, 45-53; Rusca, 1981, 108f.<br />

538 Vgl. Barras/Gasser, 2000, 18; Germann, 2000, 56; Germann, 2000b, 955. Die folgende Darstellung der Debatte versteht sich<br />

in diesem Sinn als Präzisierung der von mir in den genannten Publikationen vorgenommenen Interpretation.<br />

539 Expertenkommission 1893 I, 67. Vgl. Gretener, 1897, 33, 47f.<br />

540 Gretener, 1897, 31<br />

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