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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Sprechst<strong>und</strong>enberichte dokumentierten in diesem Fall ein jahrelanges Katz-<strong>und</strong>-Maus-Spiel zwischen<br />

einem Häftling, der seine Haftsituation zu verbessern versuchte, <strong>und</strong> der Anstaltsleitung, respektive dem<br />

Psychiater. Soweit sich dies aus den Sprechst<strong>und</strong>enberichten ersehen lässt, erhoffte sich Robert W. von<br />

einer Diagnose als Geisteskranker zunächst Vorteile im Strafvollzug. In einer späteren Phase war er sich<br />

dann aber bewusst, dass sich durch «Wohlverhalten», das den Erwartungen des Psychiaters im Hinblick<br />

auf ein «vernünftiges» Benehmen entsprach, möglicherweise einen günstigen Führungsbericht <strong>und</strong> die<br />

begehrte Entlassung erwirken liess. Als sich diese Hoffnungen zerschlugen, ging Robert W. gegenüber den<br />

Erwartungshaltungen des Psychiaters wieder auf zunehmende Distanz. In den Augen des Psychiaters<br />

stellten diese Verhaltensvariationen Etappen auf einem Reifungsprozess dar, der durch Rückschläge unterbrochen<br />

wurde. Die Sprechst<strong>und</strong>enberichte reagierten auf diese Verhaltensvariationen insofern, als sie<br />

die jeweiligen Tendenzen positiv oder negativ beurteilten <strong>und</strong> dadurch zuhanden der Anstaltsleitungen<br />

Erwartungen bezüglich des weiteren Verhaltens von Robert W. formulierten.<br />

Die Perspektive des Psychiaters: Ratgeber <strong>und</strong> Selektionsfunktion<br />

In den Augen der Strafvollzugsbehörden leistete der psychiatrische Dienst einen Beitrag zu einem rei-<br />

bungslosen Strafvollzug. Umgekehrt stellt sich aber die Frage, welche Bedeutung <strong>und</strong> Interessen die Psy-<br />

chiater mit ihrer neuen Tätigkeit verbanden. Wie bei der Sachverständigentätigkeit vor Gericht handelten<br />

sie auch im Fall der Sprechst<strong>und</strong>entätigkeit in erster Linie im Auftrag der Behörden. Die Funktionsweise<br />

des ambulanten psychiatrischen Dienstes, wie er im Kanton Bern seit 1943/44 bestand, beruhte aber<br />

gleichzeitig darauf, dass die Psychiater als Ärzte eine gewisse Unabhängigkeit von den Strafanstaltsleitun-<br />

gen besassen. In seinem bereits zitierten Referat vor der Aufsichtskommission bezeichnete Wyrsch denn<br />

auch das «neutrale» Auftreten des Psychiaters gegenüber den Insassen als wichtige Voraussetzung für eine<br />

erfolgreiche Sprechst<strong>und</strong>enpraxis. Gleichzeitig müsse der Psychiater aber vermeiden, von den Insassen<br />

gegen die Anstaltsleitung ausgespielt zu werden. Er solle sich deshalb nicht als eine «Art Oberbehörde»<br />

aufspielen <strong>und</strong> nach dem Rechten sehen wollen. Auf jeden Fall sei der Psychiater nicht der Vorgesetzte<br />

sondern der «Ratgeber» der Anstaltsleitung. 1622 Wyrsch war sich seiner prekären Stellung innerhalb der asym-<br />

metrischen Machtverhältnisse des Strafanstaltsbetriebs bewusst, gleichzeitig ordnete er seine ärztliche<br />

Tätigkeit letztlich den Interessen der Anstaltsleitung unter. Die Ausrichtung des psychiatrischen Dienstes<br />

auf die Bedürfnisse des Strafvollzugs wird namentlich in der Berichterstattung zuhanden der Anstaltslei-<br />

tung deutlich. Wie die untersuchten Fallbeispiele zeigen, versorgten die psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>enbe-<br />

reichte die Anstaltsleitung mit einem Wissen über die Insassen, zu dem diese sonst kaum oder nur mit<br />

grossem Aufwand gekommen wäre. Nicht generell beantworten lässt sich die Frage, inwiefern die Insas-<br />

sen um diesen Wissenstransfer wussten oder ob sie davon ausgingen, mit dem Psychiater eine individuelle<br />

Arzt-Patienten-Beziehung zu unterhalten. Die erwähnten Versuche einzelner Häftlinge, die relative Auto-<br />

nomie des Psychiaters zu ihren Gunsten auszunutzen, lassen allerdings vermuten, dass sie den Einfluss<br />

des Psychiaters auf die Anstaltsleitung eher über- als unterschätzten.<br />

Wyrsch selbst sah die Aufgabe des psychiatrischen Dienstes in erster Linie im Aufrechterhalten eines rei-<br />

bungslosen Strafvollzugs. Vor der Aufsichtskommission zeigte er sich freilich bescheiden, als er die Frage<br />

erörterte, ob sich der Aufwand für den Psychiater überhaupt lohne: «Es scheint mir, [...] er lohne sich,<br />

auch wenn wir bloss Helfer im Strafvollzug sind, auch wenn wir bloss bestrebt sind, dass der Strafvollzug<br />

von Ungeeigneten, d. h. den Geisteskranken, entlastet wird <strong>und</strong> dass er bei den andern nicht unterbrochen<br />

<strong>und</strong> verzögert wird, sondern seinen Zweck erreicht [...]» 1623 In den Augen Wyrsch bestand die Aufgabe des<br />

1622 Wyrsch, 1947, 15.<br />

1623 Wyrsch, 1947, 18.<br />

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