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Psychiatrie und Strafjustiz

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Entscheide der Untersuchungsbehörden konnten hier an vorhandene medizinische Selektionsleistungen<br />

anschliessen. Die Beispiele zeigen aber auch, dass die Justizbehörden nicht bereit waren, lediglich auf-<br />

gr<strong>und</strong> allgemeiner Hinweise von Ärzten auf gegenwärtige oder vergangene Geistesstörungen eine Beein-<br />

trächtigung der Zurechnungsfähigkeit anzunehmen, vielmehr verlangten sie eine fachärztliche Abklärung<br />

der Zurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tatbegehung.<br />

Die Tatsache, dass Begutachtungen meist von den Justizbehörden initiiert wurden, schloss allerdings nicht<br />

aus, dass es einzelnen Angeschuldigten gelang, mehr oder weniger gezielt ein Verhalten an den Tag zu le-<br />

gen oder Aussagen zu machen, welche die Sensibilität der Untersuchungsbeamten in Bezug auf ihren<br />

Geisteszustand schärften. Eigentliche Fälle von Simulation scheinen in der Berner Justizpraxis nur selten<br />

registriert worden zu sein; unter den hier systematisch ausgewerteten 78 Fallbeispielen konstatierten die<br />

psychiatrischen Sachverständigen lediglich in einem Fall eine absichtliche Vortäuschung einer Geistesstö-<br />

rung. 786 Dennoch eröffnete ein Strafverfahren, das auf der persönlichen Einvernahme des Beschuldigten<br />

<strong>und</strong> der Zeugen durch den Untersuchungsrichter beruhte, allen Beteiligten gewisse Handlungs- <strong>und</strong> Ver-<br />

haltensspielräume. Aufgr<strong>und</strong> der Quellen lässt sich allerdings kaum entscheiden, inwiefern bestimmte<br />

Aussagen <strong>und</strong> Verhaltensweisen von taktischen Überlegungen geprägt waren oder inwiefern sie «authenti-<br />

sche» Erfahrungen widerspiegelten. 787 In quellenkritischer Hinsicht unproblematischer <strong>und</strong> für das Ver-<br />

ständnis der Begutachtungspraxis aufschlussreicher ist es dagegen, von den Umständen auszugehen, die<br />

bei den zuständigen Untersuchungsbeamten Zweifel am Geisteszustand der angeschuldigten Personen<br />

auslösten. So fiel dem Untersuchungsrichter von Bern beispielsweise das Verhalten von Fernand Louis J.<br />

bei dessen Einvernahme auf. Fernand J., der wegen Diebstahls verhaftet worden war, richtete während<br />

des Verhörs den Blick zum Fenster hinaus, brummte die Worte «sie chöme, sie chöme» vor sich hin <strong>und</strong><br />

zeigte dabei mit der Hand nach dem Fenster. Daraufhin brach der Untersuchungsrichter das Verhör ab<br />

<strong>und</strong> überwies Fernand J. zur Begutachtung in die Waldau. Der Verdacht auf eine Geistesstörung wurde in<br />

diesem Fall durch zwei bei den Akten liegende ärztliche Zeugnisse erhärtet, die Fernand J. als «schwach-<br />

sinnig» bezeichnet hatten. 788 Im Fall von Andreas F., der in der Umgebung von Oberburg ein Haus ange-<br />

zündet <strong>und</strong> dabei ein taubstummes Mädchen umgebracht hatte, erweckte weniger das Verhalten als die<br />

Aussagen des Angeschuldigten Zweifel an dessen Geisteszustand. Andreas F. behauptete, er habe mit der<br />

Brandstiftung nicht die Bewohnerinnen <strong>und</strong> Bewohner des Hauses treffen wollen. Vielmehr sei es ihm<br />

darum gegangen, auf seine Entschädigungsansprüche in vierstelliger Millionenhöhe gegenüber dem Kan-<br />

ton Bern <strong>und</strong> der Gemeinde Oberburg wegen «verschiedener Scheltungen <strong>und</strong> Diebstähle» aufmerksam<br />

zu machen. Die Aussagen über die Beweggründe seiner Tat liessen den zuständigen Untersuchungsrichter<br />

vermuten, Andreas F. sei «geisteskrank». 789<br />

In manchen Fällen blieben die Zweifel der Untersuchungsbeamten am Geisteszustand der Angeschuldig-<br />

ten allerdings vage. So schrieb der Untersuchungsrichter von Bern im Fall von Lina H., die ihre beiden<br />

Kinder mit Kohlenoxydgas vergiftet <strong>und</strong> versucht hatte, sich auf die gleiche Weise umzubringen, an den<br />

Direktor der Waldau: «Obwohl ich keine direkten Symptome, soweit solche einem Laien auffallen, von<br />

Geistesstörung bei der H. bemerkt habe, so wäre vielleicht die Möglichkeit einer gewissen Anomalie in<br />

geistiger Hinsicht nicht ausgeschlossen. Bei der Eigenartigkeit des Falles <strong>und</strong> nachdem ich nun die H.<br />

786 StAB BB 15.4, Band 1973, Dossier 1214, Psychiatrisches Gutachten über Rudolf O., 17. Oktober 1913.<br />

787 Die Frage, inwiefern «Erfahrungen» als authentisch oder historisch konditioniert anzusehen sind, ist bislang vor allem von der<br />

historischen Geschlechterforschung <strong>und</strong> der historischen Anthropologie diskutiert worden. Vgl. Daniel, 2000; Lorenz, 1999, 56-<br />

67; Schulze, 1996; Canning, 1994; Scott, 1991; Duden, 1987.<br />

788 UPD KG 7965, Psychiatrisches Gutachten über Fernand Louis J., 28. Oktober 1913; Eintrag in Krankengeschichte, 4. Oktober<br />

1913.<br />

789 PZM KG 1194, Psychiatrisches Gutachten über Andreas F., 23. September 1898.<br />

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