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Psychiatrie und Strafjustiz

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henten mit dem Kompromiss von 1912 abfanden. Psychiater wie Hans W. Maier sahen in einer gemisch-<br />

ten Definition der Zurechnungsfähigkeit sogar neue Chancen, um den Wissenstransfer zwischen Psychiat-<br />

rie <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong> in der Justizpraxis künftig in ihrem Sinn konditionieren zu können. 1298 Auch Eugen<br />

Bleuler, einst vehementer Verfechter einer medizinischen Definition, erteilte der gemischten Definition<br />

1929 schliesslich seinen Segen. 1299 In der Zwischenkriegszeit stand innerhalb der psychiatrischen scientific<br />

community die Legaldefinition der Zurechnungsfähigkeit denn auch kaum mehr zur Diskussion. 1300 Das<br />

Abflauen diese Debatte heisst jedoch nicht, dass dadurch Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit<br />

im forensisch-psychiatrischen Diskurs keine Rolle mehr gespielt hätten. Vielmehr verschob sich die Aus-<br />

richtung des Diskurses von der Ebene der Gesetzgebung auf die Ebene der Praxis. Ganz im Sinne Maiers<br />

ging es nun darum, von Fall zu Fall auf die Entscheidfindung der Justizbehörden einzuwirken <strong>und</strong> so die<br />

Interessen der psychiatrischen Disziplin sicherzustellen. Diese Verlagerung war nicht zuletzt die Folge<br />

davon, dass sich die Psychiater der Zwischenkriegszeit zunehmend von den offensiven Medikalisie-<br />

rungsstrategien ihrer Vorgänger distanzierten. Damit verb<strong>und</strong>en war eine Neubeurteilung der forensischen<br />

Relevanz ausgesprochener «Grenzfälle» <strong>und</strong> namentlich der «psychopathischen Persönlichkeiten».<br />

Wie in Kapitel 6 gezeigt worden ist, verdankte die forensisch-psychiatrische Praxis verdankte Entwicklungsdynamik<br />

seit den 1890er Jahren zu einem guten Teil der Erweiterung des psychiatrischen Krank-<br />

heitsbegriffs um ausgesprochene «Grenzzustände», die zuvor psychiatrisch kaum erfasst worden waren.<br />

Zu den kriminalpolitischen Forderungen von Psychiatern wie Forel oder Bleuler gehörte die Exkulpation<br />

solcher «Grenzfällen» <strong>und</strong> deren Einweisung in Irrenanstalten zur «Unschädlichmachung». Was den<br />

«Grenzzustand» par excellence, den «moralischen Schwachsinn», anbelangte, forderte Maier 1908 unmissver-<br />

ständlich: «Der Strafrichter sollte hier ebenso auf Unzurechnungsfähigkeit erkennen, wie bei jeder anderen<br />

schweren psychischen Abnormität». 1301 Ebenso kategorisch meinte Eugen Bleuler 1904: «Vermindert Zu-<br />

rechnungsfähige sind Kranke, also behandeln wir sie als krank». 1302 Auch in der Zwischenkriegszeit blie-<br />

ben solche «Grenzfälle» ein Hauptgegenstand des forensisch-psychiatrischen Diskurses in der Schweiz.<br />

Eine Versammlung der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> beschäftigte sich etwa 1931 intensiv mit der<br />

Frage der Behandlungsmöglichkeiten für «Psychopathen». 1303 Drei Jahre später widmete sich eine andere<br />

Versammlung der Problematik divergierender Gutachten, wobei sich an der wissenschaftlichen Validität<br />

des Psychopathiekonzepts eine heftige Debatte entzündete. 1304 Im Vergleich zur Vorkriegszeit offenbaren<br />

diese Diskussionen allerdings eine deutliche Akzentverschiebung. Hatten führende Schweizer Psychiater<br />

vor dem Ersten Weltkrieg eine konsequente Medikalisierung von «Grenzfällen» aller Art propagiert, so<br />

kamen in den psychiatrischen Diskussionen der Zwischenkriegszeit vermehrt Zweifel an dieser Strategie<br />

auf. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, spielten bei diesem Richtungswechsel zwei Faktoren eine<br />

massgebliche Rolle: Zum einen Entwicklungstendenzen innerhalb der deutschen <strong>Psychiatrie</strong>, die sich einer<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens gegenüber zunehmend skeptischer zeigten <strong>und</strong> zum andern das in<br />

institutioneller Hinsicht nach wie vor ungelöste Verwahrungsproblem. Beide Faktoren trugen letztlich<br />

dazu bei, dass sich Schweizer Psychiater im Umgang mit «Grenzfällen» zunehmend auf Demedikalisie-<br />

rungsstrategien festlegten.<br />

1298 Maier, 1913.<br />

1299 Bleuler, 1929.<br />

1300 Vgl. Strasser, 1921; Müller, 1925; Monakow, 1928; Bertschinger, 1936.<br />

1301 Maier, 1908, 26.<br />

1302 Bleuler, 1904, 95. Mit ähnlicher Stossrichtung: Staehelin, 1928, 31.<br />

1303 SLB VCH 2574, Protokoll der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1931, 14-19; Saussure, 1933; Morgenthaler, 1932.<br />

1304 SLB VCH 2574, Protokoll der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1934, 4-11. Weitere Beispiele für den Psychopathiediskurs<br />

in der Schweiz: Saussure, 1933; Tramer, 1931; Perret, 1944; Binder 1944/45; Humbert, 1947; Mohr, 1947; Strasser,<br />

1947.<br />

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