13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

2 Das bürgerliche Strafrecht, die Frage der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> die Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens<br />

«So wie in früherer Zeit die Zurechnungslehre fast allein von Seiten der für klar <strong>und</strong> über allen Zweifel<br />

erhabenen Regel gewürdigt, die zweifelhaften Gemütszustände aber nur nebenbei berücksichtigt worden<br />

<strong>und</strong> die Entscheidung über Zurechnung [...] einzig vom Richter ausging; so ist in neuerer Zeit, wenn auch<br />

nicht dem ausdrücklichen Gesetze, doch der Gerichtspraxis nach, wenigstens in den aufgeklärten Staaten,<br />

der Fall ziemlich umgekehrt: die Ausnahmen, durch die Ärzte <strong>und</strong> Psychologen hervorgehoben, haben die<br />

Regel bald umgestürzt <strong>und</strong> die Zweifelhaftigkeit der Gemütszustände in Begehung von Verbrechen so viel<br />

als zur Regel selbst erhoben[...].» 121 Friedrich Groos (1768–1852), seit 1828 Direktor der neu gegründeten<br />

Irrenanstalt Heidelberg, war nicht der einzige, der sich um 1830 Gedanken über die zunehmende Bedeu-<br />

tung «zweifelhafter Gemütszustände» in der Strafrechtspflege machte. Dass die Regel, wonach Straftäte-<br />

rInnen für ihre Delikte verantwortlich gemacht werden konnten, zum Ausnahmefall zu werden drohte,<br />

war in seinen Augen die Folge der zunehmenden Einflussnahme von «Ärzten <strong>und</strong> Psychologen» auf die<br />

<strong>Strafjustiz</strong>. Auch wenn im Justizalltag des Vormärz eine solch prinzipielle Umkehrung von Regel <strong>und</strong><br />

Ausnahme kaum Realität gewesen sein dürfte, so traf die Feststellung, dass die Einbindung der «Seelen-<br />

heilk<strong>und</strong>e» in die Belange der Strafrechtspflege seit einigen Jahrzehnten eine neue Qualität angenommen<br />

hatte, doch zweifelsohne zu. Tatsächlich erhielt das zwischen Medizin <strong>und</strong> Justiz angesiedelte Praxisfeld<br />

der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> zwischen 1780 <strong>und</strong> 1850 erstmals eigenständige Konturen. Sowohl die «See-<br />

lenheilk<strong>und</strong>e», wie die im Entstehen begriffene <strong>Psychiatrie</strong> genannt wurde, als auch der moderne Justizap-<br />

parat entstanden im Zuge der Herausbildung einer funktional differenzierten Gesellschaft. Die Verände-<br />

rungen der politischen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Strukturen waren aufs engste mit einem tiefgehenden<br />

Wandel der für das Handeln individueller <strong>und</strong> kollektiver Akteure massgeblichen Einstellungen, mentalen<br />

Dispositionen <strong>und</strong> sozialen Regelsystemen verb<strong>und</strong>en. Integraler Bestandteil dieses Prozesses war die<br />

Herausbildung einer bürgerlichen Kultur, der ein set kollektiver Wertvorstellungen <strong>und</strong> Normen zugr<strong>und</strong>e<br />

lag, welche ihrerseits die Basis für die Formierung einer genuin bürgerlichen Identität abgaben. «Bürger-<br />

lichkeit» äusserte sich aber nicht nur in politischen Positionsbezügen, wirtschaftlichen Aktivitäten oder im<br />

Bekenntnis zu einer bestimmten Lebensführung, sondern ebenso in einem spezifischen Umgang mit Ver-<br />

haltensweisen, die von den neu gesetzten Normen der bürgerlichen Gesellschaft abwichen. 122 Die Kriminalisierung<br />

<strong>und</strong> Medikalisierung abweichenden Verhaltens waren gleichermassen Bewältigungsstrategien,<br />

mittels denen die bürgerliche Gesellschaft Devianz zu bekämpfen oder zu integrieren versuchte.<br />

Ausgehend von der These eines spezifischen Umgangs der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft<br />

mit abweichendem Verhalten, skizziert das folgende Kapitel eine knappe Genealogie jener Problemlagen<br />

<strong>und</strong> Konfliktfelder, die für die Entstehung eines forensisch-psychiatrischen Praxisfelds im frühen 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert konstitutiv waren. Dem räumlichen Fokus dieser Untersuchung entsprechend, steht der deutsche<br />

<strong>und</strong> französische Sprachraum im Vordergr<strong>und</strong>. Dabei geht es einerseits um die Herausbildung eines<br />

bürgerlichen Strafparadigmas im Zuge der Aufklärung, das den staatlichen Strafanspruch neu formulierte <strong>und</strong><br />

dabei der Frage der individuellen Verantwortlichkeit des Subjekts als Voraussetzung für dessen Strafbar-<br />

keit eine zentrale Bedeutung einräumte. Die Akzentuierung der Selbstbestimmungsfähigkeit des Subjekts<br />

im bürgerlichen Strafrecht ging zeitlich mit einer breiten Problematisierung der menschlichen Willensfreiheit im<br />

Rahmen des aufklärerischen Diskurses über pragmatische Menschenkenntnis einher. Die Willenssemantik<br />

des bürgerlichen Strafdiskurses erlaubte der Gerichtsmedizin im Gegenzug, ihrer traditionellen Forderung<br />

121 Friedrich Groos, Der Skeptizismus in der Freiheitslehre in Beziehung zur strafrechtlichen Theorie, o.O. 1830, 2f., zitiert: Greve, 2000, 92.<br />

Zu Groos: Meichtry, 1994, 92-114.<br />

122 Vgl. Ludi, 2000; Hettling/Hoffmann, 1997; Kaufmann, 1995.<br />

37

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!