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Psychiatrie und Strafjustiz

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liefen letztlich darauf hinaus, die Grenzen zwischen Verbrechen <strong>und</strong> Geisteskrankheit definitiv zu verwi-<br />

schen. So war es denn auch nur eine Frage der Zeit, bis das für das bürgerliche Strafrecht konstitutive<br />

Konzept der Zurechnungsfähigkeit ins Wanken geriet.<br />

Die Herausforderung der Kriminalanthropologie<br />

Diesen Schritt vollzogen um 1880 die italienischen Kriminalanthropologen um den Turiner Gerichtsmediziner<br />

<strong>und</strong> Psychiater Cesare Lombroso (1835–1909). Lombrosos Theorie des «geborenen Verbrechers»<br />

(«delinquente nato») reduzierte kriminelles Verhalten in radikalster Weise auf rein endogene Ursachen, auf<br />

ein biologisches Substrat, <strong>und</strong> leugnete damit generell die Fähigkeit straffälliger Individuen zur Selbstbe-<br />

stimmung. Der Typus des «geborenen Verbrechers» stiess nicht nur in betroffenen Spezialwissenschaften<br />

namentlich der <strong>Psychiatrie</strong>, Anthropologie <strong>und</strong> Rechtswissenschaft auf grosse Resonanz, sondern avan-<br />

cierte noch vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zu einem interdiskursiv nutzbaren Topos, der Eingang in literari-<br />

sche Darstellungen wie Emile Zolas La bête humaine oder Bram Stokers Dracula fand. 240 Aber auch in der<br />

modernen Geschichtswissenschaft erfreuen sich die kriminalanthropologischen Konzepte einer anhalten-<br />

den Popularität. Waren Historiker <strong>und</strong> Kriminologen zunächst geneigt, mit dem Erscheinen von Lombro-<br />

sos Uomo delinquente (1876) den Beginn der modernen Kriminologie anzusetzen, so verlagerte sich das<br />

Interesse der Forschung zunehmend auf die Kontinuitäten <strong>und</strong> Kontexte, in welche die Theorien der<br />

Kriminalanthropologen eingeb<strong>und</strong>en waren, sowie auf deren Rezeption in Fachwelt <strong>und</strong> Öffentlichkeit. 241<br />

Bisher beschränken sich historische Untersuchungen allerdings weitgehend auf eine Analyse der konzep-<br />

tuellen Ebene. Fragen nach der Aneignung kriminalanthropologischer Theorien in der Rechtspraxis <strong>und</strong><br />

im Strafvollzug sind bislang noch kaum thematisiert worden. Dieser Mangel wird gerade im Hinblick auf<br />

die Geschichte der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> deutlich. So finden sich in der einschlägigen Literatur zwar<br />

verstreute Hinweise auf die Gutachtertätigkeit Lombrosos, ohne dass aber geklärt würde, in welchen spe-<br />

zifischen (juristischen) Kontexten diese eingeb<strong>und</strong>en war. 242 Die Vernachlässigung des Praxisbezugs führt<br />

denn auch regelmässig zu einer Überschätzung der Bedeutung der kriminalanthropologischen Theorien<br />

<strong>und</strong> namentlich ihrer anthropometrischen Komponenten im Hinblick auf die Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens. Gerade die Ausführungen Krafft-Ebings zum «moralischen Schwachsinn» zeigen, dass die<br />

Annahme rein endogener Kriminalitätsursachen in der psychiatrischen scientific community bereits zu Beginn<br />

der 1870er Jahren verbreitet war.<br />

In einem zentralen Punkt unterschieden sich die Kriminalanthropologen allerdings von früheren Medikali-<br />

sierungsbestrebungen. Stellten Forensiker wie Krafft-Ebing die Grenzziehung zwischen Verbrechen <strong>und</strong><br />

Geisteskrankheit höchstens fallweise in Frage, so zogen die Kriminalanthropologen aus ihren Forschun-<br />

gen die Konsequenz einer prinzipiellen Infragestellung des bürgerlichen Schuldstrafrechts. 243 Wie in Kapi-<br />

tel 3.2 zu diskutieren sein wird, lag die Brisanz der Theorien Kriminalanthropologen weniger auf medizini-<br />

schem, als auf juristischem Gebiet, beanspruchten sie doch, das Wissensfeld des homo criminalis zur Gr<strong>und</strong>-<br />

lage einer neuen Kriminalpolitik zu machen. Ein Mitstreiter Lombrosos, der Jurist Enrico Ferri (1856–<br />

1929), rückte straffälliges Verhalten denn auch an sich <strong>und</strong> nicht lediglich in Ausnahmefällen in die Nähe<br />

von Geisteskrankheit: «Der Kriminalist <strong>und</strong> der Gesetzgeber haben bisher den Verbrecher aus ihrem ei-<br />

240 Andriopoulos, 1996, 29-37, 41-51; Leps, 1992.<br />

241 Vgl. die folgende Auswahl: Wetzell, 2000, 28-31; Regener, 1999; Renneville, 1997; Becker, 1996; Gadebusch Bondio, 1995;<br />

Ginzburg, 1995; Blanckaert, 1994; Labadie, 1994; Beirne, 1993; Leps, 1992, 15-69; Pasquino, 1991; Pick, 1989, 109-152; Strasser,<br />

1984; Gould, 1983; Hering 1966; Mannheim, 1960; Ochs, 1957.<br />

242 Vgl. Gadebusch Bondio, 1995, 39f; Guarnieri, 1991.<br />

243 Vgl. Wetzell, 2000, 42: «Pre-Lombrosian forensic Psychiatry, however, was concerned with the insane offender as an exceptional<br />

phenomenon, while Lombroso proposed a general link between abnormality and criminal behavior. This was the key difference<br />

between forensic psychiatry and the emerging field of criminal psychology».<br />

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