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Psychiatrie und Strafjustiz

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ten mangelnder Ernsthaftigkeit <strong>und</strong> Zielstrebigkeit zusammenfassen. In den Augen der Sachverständigen<br />

war Paul C. ein «in bestimmter Hinsicht kindlich gebliebener, also unterentwickelter Charakter». Dies habe<br />

er nicht nur mit seinen öffentlichen Prahlereien über die Unterschlagungen, sondern auch mit seinen häu-<br />

figen Kinobesuchen <strong>und</strong> seiner Vorliebe für Indianergeschichten bewiesen. Paul C. galt den Psychiatern<br />

als Jüngling, der trotz seines mündigen Alters den Übergang in die erwachsene Männerwelt <strong>und</strong> das Er-<br />

werbsleben verpasst hatte: «Dafür kam er in keinem Beruf vorwärts, es fehlte ihm der Trieb zur regelmäs-<br />

sigen Arbeit. Er betrog seinen Vater um Geld, das er für Kino <strong>und</strong> Dirnen ausgab, indem er gefälschte<br />

Rechnungen in dessen Namen einkassierte.» Gerade auch in sexueller Hinsicht passte Paul C. nicht ins<br />

Idealbild, das sich die Psychiater von einem jungen Mann machten: «Nachher zogen ihn der Geschlechts-<br />

genuss, die Dirnen in unwiderstehlicher Weise an; er verkehrte im Wald, auf öffentlichen Promenaden-<br />

bänken. Der Versuch der Eltern, ihn im Jünglingswesen <strong>und</strong> bei den Pfadfindern heimisch zu machen,<br />

misslang; denn diese gingen Sonntags auf die Berge, während er Mädchengesellschaft vorzog [...]. Eine<br />

Zeit lang ging er mit einem Homosexuellen <strong>und</strong> liess sich zu mutueller Onanie benutzen; durch das Ein-<br />

greifen des Vaters wird er von diesem getrennt» 1006<br />

«Kino», «Dirnen» <strong>und</strong> «Homosexualität» waren die Schlüsselworte, mit denen das Gutachten die sozialen<br />

<strong>und</strong> sexuellen Abweichungen von Paul C. identifizierte. In den Bemerkungen der Psychiater über die häu-<br />

figen Kinobesuche <strong>und</strong> die Vorliebe für Indianergeschichten von Paul C. kam zum einen die bildungsbür-<br />

gerliche Kritik an der modernen (städtischen) Massenkultur zum Ausdruck. 1007 Eine angemessenere Frei-<br />

zeitbeschäftigung für einen Jüngling sah das Gutachten dagegen im Mitmachen bei den Pfadfindern <strong>und</strong><br />

im Naturgenuss. Ganz in diesem Sinne hatte 1910 der Direktor von Bellelay, Hugo Hiss, vor dem Berner<br />

Hilfsverein für Geisteskranke die «Sch<strong>und</strong>literatur mit ihren Räuber-, Mörder- <strong>und</strong> Indianergeschichten» ge-<br />

geisselt: «Mit wahrer Gier verschlingt bekanntlich schon der normale Knabe dieses Sch<strong>und</strong>, der pathologi-<br />

sche identifiziert sich direkt mit dem Held seiner Geschichte <strong>und</strong> von da zu eigener Betätigung als Dieb,<br />

Einbrecher oder gar Mörder ist nur ein Schritt.» 1008 Zudem hatte Paul C. mit seinen Diebstählen wieder-<br />

holt die Autorität seines Vaters missachtet <strong>und</strong> gegen dessen Gebote zu einer ernsthafteren Lebensgestal-<br />

tung zuwidergehandelt. Zum andern stellten die Sexualpraktiken von Paul C. die bürgerlichen Leitvorstel-<br />

lungen ehelicher Sexualität <strong>und</strong> Intimität in Frage. Zusätzlich hatte Paul C. mit seinen wechselnde hetero-<br />

<strong>und</strong> homosexuellen Kontakten gegen die «heterosexuelle Matrix» (Judith Butler) der bürgerlichen Geschlechterordnung<br />

verstossen, welche gemischt- <strong>und</strong> gleichgeschlechtliche Beziehungen als Abweichun-<br />

gen von einer biologischen Norm betrachtete. 1009<br />

Paul C. selbst nannte den Sachverständigen Kino, schlechte Lektüre sowie Verführung <strong>und</strong> Ausnutzung<br />

durch Kameraden als Gründe für sein Fehlverhalten. Als Kinoangestellter habe er sich in Kinodramen<br />

<strong>und</strong> Lektüre «hineingefühlt» <strong>und</strong> sich als «Held solcher Erlebnisse» vorgestellt. Das Indianerleben <strong>und</strong><br />

«Apachengewohnheiten» seien sein Ideal gewesen, auch habe er von einem abenteuerlichen Leben als<br />

Zuhälter geträumt. Analog zu den Ausführungen von Hiss deuteten die Sachverständigen der Waldau die<br />

«überhitzte Phantasie» <strong>und</strong> die in ihren Augen mangelnde Reife <strong>und</strong> Zielstrebigkeit von Paul C. als eine<br />

Folge einer «angeborenen Veranlagung» <strong>und</strong> «ethischen Minderwertigkeit»: «Sein von Haus aus minder-<br />

wertiger Charakter erklärt sich aus der hereditären Belastung; die Tatsache, dass Kino, Sch<strong>und</strong>literatur <strong>und</strong><br />

schlechte Gesellschaft auf C. ihren verderblichen Einfluss in so hohem Masse ausüben konnten, aus dieser<br />

1006 StAB BB 15.4, Band 2072, Dossier 1735, Psychiatrisches Gutachten über Paul C., 16. Januar 1918.<br />

1007 Vgl. Engel, 1990, 121-152.<br />

1008 Hiss, 1910, 17f.<br />

1009 Zur «heterosexuellen Matrix» der Geschlechterordnung: Butler, 1991. Zur Pathologisierung der Homosexualität: Schlatter,<br />

2002; Oosterhuis, 2000.<br />

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