Psychiatrie und Strafjustiz
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über die forensisch-psychiatrische Praxis vor einem bayerischen Militärgericht zwischen 1900 <strong>und</strong> 1914,<br />
die Bestandteil einer grösseren Monographie über die Entstehung der deutschen Militärpsychiatrie ist.<br />
Diese Untersuchung stellt für die vorliegende Untersuchung aus zwei Gründen einen wichtigen Bezugs-<br />
punkt dar. Aufgr<strong>und</strong> einer statistischen Auswertung von Begutachtungsfällen kommt Lengwiler einerseits<br />
zum Schluss, dass die juristisch-medizinischen Kompetenzstreitigkeiten, welche von der bisherigen For-<br />
schung hervorgehoben worden sind, um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende längst einer effizienten Kooperation der<br />
beiden Bezugssysteme Platz gemacht hatten. Voraussetzung für diese Zusammenarbeit sei die Entstehung<br />
eines «psychiatrisch sensibilisierten Justizwesens» gewesen. Andererseits weist Lengwiler darauf hin, dass<br />
die Inanspruchnahme psychiatrischer Deutungskompetenz in der Gerichtspraxis mit komplexen Aus-<br />
handlungsprozessen verb<strong>und</strong>en war, bei denen die beteiligten AkteurInnen eine zentrale Rolle spielten. 95<br />
Sowohl die These einer zunehmenden arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Psy-<br />
chiatrie, als auch die Betonung der Bedeutung individueller Handlungskompetenzen innerhalb regelstruk-<br />
turierter Handlungsfelder bilden wichtige Voraussetzungen für die vorliegende Untersuchung.<br />
In der Schweiz war die <strong>Psychiatrie</strong>geschichte ausserordentlich lange, das heisst bis in die 1990er Jahre<br />
hinein, eine Domäne der Medizingeschichte. Niederschlag fand diese Forschungstätigkeit in einer grossen<br />
Zahl von Ärztebiographien <strong>und</strong> Anstaltsmonographien. 96 Eine psychiatriekritische Tradition, die Impulse<br />
für eine thematisch <strong>und</strong> methodisch erweiterte <strong>Psychiatrie</strong>geschichte geliefert hätte, lässt sich in der<br />
Schweiz im Vergleich zu andern Ländern höchstens ansatzweise feststellen. 97 Erst in den 1990er Jahren<br />
haben Schweizer HistorikerInnen psychiatriegeschichtliche Themen im Zusammenhang mit eugenischen<br />
Massnahmen aufgegriffen. Im Zentrum dieser Debatte stand die Frage, welche Rolle die Schweizer<br />
Psychiater bei der Anwendung eugenischer <strong>und</strong> anderer fürsorgepolitischer (Zwangs-)Massnahmen in der<br />
ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts spielten. Damit verb<strong>und</strong>en ist die Problematik, inwiefern dem Konzept<br />
des modernen Sozialstaats bestimmte Normalitätsvorstellungen zugr<strong>und</strong>e lagen, die ihrerseits Aus-<br />
schlussmechanismen gegenüber einzelnen Bevölkerungsminderheiten zu begründen vermochten. 98 Dieser<br />
spezifische <strong>und</strong> nicht zuletzt forschungspolitisch motivierte Fokus auf Fragen der Eugenik <strong>und</strong> der Sozi-<br />
aldisziplinierung hat allerdings auch eine gewisse Verengung des Forschungshorizonts mit sich gebracht,<br />
welche ebenfalls im bereits erwähnten Umgang mit dem Professionalisierungskonzept zum Ausdruck<br />
kommt. 99 So hat die schweizerische Geschichtsschreibung die Begutachtungstätigkeit der Psychiater bislang<br />
vor allem im Zusammenhang mit dem Zivil- <strong>und</strong> Fürsorgerecht thematisiert. 100 Weniger Aufmerk-<br />
samkeit hat dagegen der Bereich der Strafrechtspflege gef<strong>und</strong>en. Die vorliegende Untersuchung, die einen<br />
Beitrag zur Schliessung dieser Forschungslücke leisten möchte, ist der aktuellen Eugenikdebatte allerdings<br />
95 Lengwiler, 2000, 231-256.<br />
96 Vgl. Graf-Nold, 1991. Verwiesen sei hier lediglich auf einige für die vorliegende Untersuchung relevante Beispiele:<br />
Hell/Scharfetter/Möller, 2001; Rocchia, 2001; Müller, 2001; Müller 1998; Meichtry, 1994; Arnold, 1992; Wilhelm, 1991; Mayer,<br />
1988; Schoop-Russbült, 1988; Heinrich, 1986; Neiger, 1985; Haenel, 1982; Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978; Walser, 1971;<br />
Bleuler, 1951; Wyrsch, 1950; Ladame 1920/1922. Weitere Hinweise enthalten die Anmerkungen zu den einzelnen Kapitel. Als<br />
Beispiele für sozialhistorische Studien zur Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>geschichte seien hier erwähnt Cantini/Pedroletti, 2000; Gasser/Heller,<br />
1999; Zuppiger, 1999; Fussinger/Tevaearai, 1998; Jeanmonod, 1996; Wüthrich, 1995; Klee, 1991.<br />
97 Als seltene Ausnahme: Rufer, 1987. Breite Wirkung zeigte in der Schweiz vor allem der kritische Bericht von Willy Wottreng,<br />
der 2000 dazu führte, dass Stadt <strong>und</strong> Kanton Zürich zwei Forschungsprojekte in Auftrag gaben, welche die Anwendung von<br />
Zwangsmassnahmen in <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Fürsorge untersuchen sollen (Wottreng, 2000).<br />
98 Vgl. die folgende Auswahl: Hürlimann, 2002; Schweizer, 2002; Huonker, 2002; Jeanmonod/Heller/Gasser, 2002; Leimgruber,<br />
2001; Germann, 2000a; Ritter, 2000; Dubach, 1999; Goepfert, 1999; Imboden, 1999; Tanner, 1999; Wecker, 1999; Witschi, 1999;<br />
Ziegler, 1999; Leimgruber/Meier/Sablonier, 1998; Aeschbacher, 1998; Wecker 1998; Gasser/Heller, 1997; Gossenreiter, 1995;<br />
Schwank, 1996; Keller, 1995; Ramsauer/Meier, 1995.<br />
99 Das Ziel, diese Verengung kritisch zu diskutieren, verfolgte die im Januar 2001 in Bern stattgef<strong>und</strong>ene Tagung «<strong>Psychiatrie</strong> –<br />
Geschichte – Gesellschaft».<br />
100 Vgl. Ramsauer, 2000; Hürlimann, 2000; Puenzieux/Ruckstuhl, 1994; Ryter, 1994; Gossenreiter/Horowitz/Killias, 1992; Gossenreiter,<br />
1992. Auf die Rolle psychiatrischer Sachverständiger im Zusammenhang mit der Fürsorge- <strong>und</strong> Versorgungspraxis der<br />
Burgergemeinde Bern verweist Schläppi, 2001, 193f., 437-439.<br />
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