13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

6 Die Entwicklung der forensisch-psychiatrischen Praxis 1885–1920<br />

Die Wirkungsmacht eines Dispositivs liegt in seiner Funktion, bestimmte Handlungsmuster zu generieren<br />

<strong>und</strong> deren Reproduktion sicherzustellen. Im Fall der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> im Kanton Bern widerspie-<br />

geln sich solche Handlungsmuster in der längerfristigen Entwicklung der Begutachtungspraxis. Zum Aus-<br />

druck kommt dabei zugleich die regelhafte Strukturiertheit des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds.<br />

Mittels einer statistischen Auswertung der von den Ärzten der Berner Irrenanstalten zwischen 1885 <strong>und</strong><br />

1920 abgegebenen strafrechtlichen Gutachten lassen sich Aussagen über die Entwicklung von Hand-<br />

lungsmuster im Bereich der systemübergreifenden Zusammenarbeit zwischen <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong><br />

machen, die von den Besonderheit eines jeden Einzelfalls abstrahieren. Analysiert <strong>und</strong> diskutiert werden in<br />

diesem Kapitel die Entwicklung der Gutachtenzahlen, die Art der gestellten Diagnosen <strong>und</strong> der beurteil-<br />

ten Delikte sowie die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit durch die Sachverständigen <strong>und</strong> die Justizbe-<br />

hörden.<br />

Das Hauptproblem einer solchen quantitativen Untersuchung liegt in der Beschaffung von zuverlässigen<br />

<strong>und</strong> möglichst homogenen Datenreihen. Die Analysen in diesem Kapitel stützen sich auf die in den Jah-<br />

resberichten der Berner Irrenanstalten zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920 aufgeführten strafrechtlichen Gutach-<br />

ten. 711 Trotz der teilweise summarischen Wiedergabe können diese Daten als vergleichsweise zuverlässig<br />

gelten. Sie wurden von den Anstalten am Ende eines Kalenderjahres mit dem Ziel eines Leistungsauswei-<br />

ses erhoben <strong>und</strong> zusammengestellt. Die Möglichkeit, dass einzelne Gutachten nicht in diese Zusammen-<br />

stellungen aufgenommen worden sind, ist zwar nicht ganz auszuschliessen; sie dürfte jedoch im Vergleich<br />

zu retrospektiven Datenerhebungen deutlich geringer sein. Die Einträge in den Jahresberichten enthalten<br />

in der Regel Angaben zum Geschlecht, zur Diagnose, zum Delikt <strong>und</strong> ab den 1890er Jahren auch zur<br />

Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. Ab 1916 werden die Einträge lückenhafter <strong>und</strong> weisen oft nur<br />

noch die Zahl der Begutachtungen aus. In der Form variieren die Einträge zwischen rein statistischen<br />

Angaben <strong>und</strong> kleinen Fallgeschichten. Nicht darin enthalten sind in der Regel Angaben zum Alter <strong>und</strong> zur<br />

sozialen Herkunft der ExplorandInnen. Auf das soziale Profil der begutachteten StraftäterInnen wird<br />

deshalb im Zusammenhang mit der Auswertung eines Fallsamples in Kapitel 7 eingegangen. Ebenfalls<br />

finden sich in den Jahresberichten keine Angaben zu Gutachten von Ärzten, die nicht an den kantonalen<br />

Irrenanstalten tätig waren. Solche Angaben müssen direkt aus der Durchsicht der Gerichtsprotokolle ge-<br />

wonnen werden.<br />

Die Untersuchung der allgemeinen Entwicklung der Begutachtungspraxis stützt sich auf alle 817 Gutach-<br />

teneinträge in den Jahresbereichten zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920. Diese wurden in sieben Fünfjahresperioden<br />

unterteilt. Für die Auswertung der gestellten Diagnosen <strong>und</strong> beurteilten Delikte werden vier über den<br />

gesamten Untersuchungszeitraum verteilte Fünfjahresperioden (1887–1891, 1896–1900, 1906–1910,<br />

1912–1916) analysiert. 712 Von den dabei resultierenden 380 Einträge konnten in 375 Fällen die gestellten<br />

Diagnosen <strong>und</strong> in 365 Fällen die beurteilten Delikte eruiert werden. Die Analyse der Beurteilung der Zu-<br />

rechnungsfähigkeit stützt sich auf drei Fünfjahresperioden (1896–1900, 1906–1910, 1912–1916) respektive<br />

auf 230 Gutachteneinträge.<br />

711 Für alle Angaben in diesem Kapitel, sofern nicht anders vermerkt: Jb. Waldau, 1885–1920.<br />

712 Analysiert werden in der Regel jeweils die letzten fünf Jahre eines Jahrzehnts. Da die Gutachten der Jahre 1885 <strong>und</strong> 1886 in<br />

den Jahresberichten summiert wurden, ist die erste Fünfjahresperiode auf die Jahre 1887–1891 angesetzt worden. Das Ansetzen<br />

der letzten Fünfjahresperiode auf die Jahre 1912–1916 ist eine Folge der nach 1917 häufig summarischen Wiedergabe der Diagnosen<br />

<strong>und</strong> Delikte in den Jahresberichten.<br />

156

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!