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Psychiatrie und Strafjustiz

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lemkonstellationen für die Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> hingewiesen. In<br />

einem Interview betont er, dass es in forschungspraktischer Hinsicht wenig Sinne mache, die zunehmende<br />

Medikalisierung der Strafrechtspflege im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert durch eine «imperialistische Dynamik der Psy-<br />

chiatrie» zu erklären. Vielmehr müsse es darum gehen, «strategische Notwendigkeiten» aufzuspüren, wel-<br />

che in den Augen beider Disziplinen eine Zusammenarbeit Erfolg versprechend machte. 57 Jüngst hat<br />

Nadja Ramsauer den Vergesellschaftungsansatz in ihrer Untersuchung über die Zürcher Fürsorgepraxis<br />

aufgegriffen. Sie zeigt zum einen die gegenseitige Durchdringung fürsorgerischer <strong>und</strong> psychiatrischer Deu-<br />

tungsmuster auf <strong>und</strong> belegt, dass individuelle Handlungskompetenzen bei solchen Vergesellschaftungs-<br />

prozessen eine zentrale Rolle spielen. 58<br />

Trotz der berechtigten Kritik von Loetz hält die vorliegende Untersuchung am Begriff der Medikalisierung<br />

fest. Dies liegt nicht zuletzt mit dessen sprachlicher Prägnanz zusammen. Allerdings integriert der hier<br />

vertretene Ansatz wesentliche Elemente von Loetz’ Kritik. Die vorliegende Untersuchung betrachtet Me-<br />

dikalisierungsprozesse vor allem auf zwei Ebenen. Einerseits steht die Entwicklung, Stabilisierung <strong>und</strong> Aneig-<br />

nung psychiatrischer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens im Vordergr<strong>und</strong>. 59 Der Fokus liegt dabei primär auf<br />

der Aneignung psychiatrischer Deutungsmuster in der Justizpraxis <strong>und</strong> weniger auf der Ausdifferenzie-<br />

rung einer «Wissenschaft des Verbrechens», der Kriminologie. 60 Psychiatrische Deutungsmuster werden<br />

dabei als Sinnangebote betrachtet, die den Selektionsmechanismen des Strafverfahrens unterliegen. 61 In-<br />

dem sie zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit herangezogen wurden, dienten psychiatrische Deu-<br />

tungsmuster der Grenzziehung zwischen «normalem» <strong>und</strong> «abnormem» kriminellem Verhalten. Sie erlang-<br />

ten ihre Bedeutung indes erst vor dem Horizont alternativer (moralisch-juristischer) Deutungsmuster kri-<br />

minellen Verhaltens sowie aufgr<strong>und</strong> ihrer Anschlussfähigkeit im Verlauf komplexer Aushandlungsprozes-<br />

se. Solche Medikalisierungsprozesse vollzogen sich in einem regelhaft strukturierten <strong>und</strong> von verschiede-<br />

nen Instanzen besetzten Praxisfeld. Andererseits begründete die Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

neue institutionelle Zugriffe auf StraftäterInnen, die an die Stelle traditioneller Instrumente sozialer Kontrolle<br />

treten konnten. Wie in Kapitel 8 gezeigt wird, kam dieser institutionelle Zugriff der <strong>Psychiatrie</strong> namentlich<br />

bei sichernden Massnamen gegen «abnorme» <strong>und</strong> «gemeingefährliche» StraftäterInnen zum Zug. Für die<br />

betroffenen DelinquentInnen bedeutete dies im Gegensatz zu einer regulären Strafe meist eine unbefriste-<br />

te Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Die Medikalisierung kriminellen Verhaltens lief in solchen<br />

Fällen auf eine Psychiatrisierung hinaus, deren Vollzug nicht der Logik des juristischen, sondern des medizi-<br />

nischen Bezugssystems folgte.<br />

Bestrebungen zur Medikalisierung kriminellen Verhaltens sind Ausdruck kollektiver Lernprozesse, mit de-<br />

nen sowohl das Justizsystem, als auch die <strong>Psychiatrie</strong> auf konkrete Problemkonstellationen <strong>und</strong> Heraus-<br />

forderungen im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Bewältigung kriminellen Verhaltens reagiert<br />

haben. Im Anschluss an das Modell historischer Lernprozesse von Hansjörg Siegenthaler lassen sich Medikalisierungstendenzen<br />

als Versuche zur Etablierung neuer Regeln zur Bewältigung kriminellen <strong>und</strong> ab-<br />

weichenden Verhaltens verstehen. Zu unterscheiden sind dabei f<strong>und</strong>amentale Lernprozesse, in denen auf der<br />

57 Foucault, 1978, 136-138.<br />

58 Ramsauer, 2000, 229.<br />

59 Unter «Deutungsmuster» werden kognitive Regelkomplexe verstanden, welche die Selektion von Informationen sowie deren<br />

Klassifikation <strong>und</strong> Interpretation konditionieren (Siegenthaler, 1993, 10). Im Anschluss an den cultural turn in der Geschichtswissenschaft<br />

wird davon ausgegangen, dass eine wie auch immer geartete «Realität» nicht unabhängig von der gesellschaftlichen<br />

Sinnproduktion mittels Diskurse <strong>und</strong> diskursiv vermittelten Praktiken erfasst werden kann (Conrad/Kessel, 1998). Deutungsmustern<br />

kommt demnach eine konstitutive Rolle für die «gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit» (Berger/Luckmann, 1969)<br />

zu, indem sie Komplexität reduzieren <strong>und</strong> gesellschaftliche Sinngebungsprozesse strukturieren. In systemtheoretischer Perspektive<br />

unterliegen Deutungsmuster den Differenzschemata der einzelnen Bezugssysteme.<br />

60 Vgl. Wetzell, 2000; Mucchielli, 1994.<br />

61 Vgl. Schwerhoff, 1999, 13, 107-111; Kunz, 1998, 244-251.<br />

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