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Psychiatrie und Strafjustiz

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dafür, dass Verwahrungs- <strong>und</strong> Versorgungsbeschlüsse nur in Kenntnis psychiatrischer Gutachten über die<br />

Zurechnungsfähigkeit ergehen konnten. 574<br />

Stooss übernahm die Vorschläge der Irrenärzte weitgehend unverändert in den Vorentwurf von 1893.<br />

Artikel 10 des Vorentwurfs sah die Verwahrung unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähi-<br />

ger StraftäterInnen im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit, Artikel 11 die Versorgung im Hinblick auf<br />

die «irrenärztliche Behandlung» vor. Im Gegensatz zu den Irrenärzten wollte Stooss die Versorgung, nicht<br />

aber die Verwahrung weiterhin den Administrativbehörden überlassen. 575 Auch was die Begründung die-<br />

ser Bestimmungen betraf, lehnte sich Stooss eng an die Argumentation der Irrenärzte an <strong>und</strong> hob wie<br />

diese den Sicherungsaspekt der neuen Massnahmen hervor: «Mit Recht beklagt sich die öffentliche Mei-<br />

nung darüber, dass gefährliche Geisteskranke nach ihrer Freisprechung freigelassen werden, <strong>und</strong> ihnen so<br />

Gelegenheit gegeben wird, neuerdings die öffentliche Sicherheit zu gefährden.» 576 Stooss <strong>und</strong> die Irrenärz-<br />

te waren sich einig, dass durch einen einheitlich geregelten institutionellen Zugriff der <strong>Psychiatrie</strong> auf<br />

«verbrecherische Geisteskranke» der Schutz der Gesellschaft verbessert werden konnte. Zumindest was<br />

die Gruppe der unzurechnungsfähigen DelinquentInnen betraf, wurde diese Einschätzung sowohl von<br />

Seiten der Strafrechtsreformer, als auch von Seiten der Kritiker des Vorentwurfs geteilt. In den Experten-<br />

kommissionen von 1893 <strong>und</strong> 1912 herrschte ein weitgehender Konsens darüber, dass ein Freispruch we-<br />

gen Unzurechnungsfähigkeit dem Staat das Recht einräumte, die betroffenen StraftäterInnen einem insti-<br />

tutionellen Zugriff seitens der <strong>Psychiatrie</strong> zu unterwerfen. 577<br />

Strafe <strong>und</strong>/oder sichernde Massnahme?: Die Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung vermindert Zurech-<br />

nungsfähiger<br />

Kontroverser gestalteten sich die juristisch-psychiatrische Debatte über die Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung<br />

vermindert Zurechnungsfähiger. In diesem Bereich gab das Verhältnis zwischen sichernder Massnahme<br />

<strong>und</strong> Strafe Anlass zu einem eigentlichen Grabenkampf zwischen Strafrechtsreformern <strong>und</strong> traditionalisti-<br />

schen Juristen. Traditionellerweise berücksichtigte die (kantonale) Rechtsprechung eine verminderte<br />

Schuldfähigkeit durch eine Milderung <strong>und</strong> Verkürzung der Strafe. 578 Gerade diese Milderungspraxis stiess<br />

bei Strafrechtsreformern <strong>und</strong> Psychiatern im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zunehmend auf Kritik,<br />

hatte sie doch zur Folge, dass nur leicht geistesgestörte StraftäterInnen <strong>und</strong> medizinische «Grenzfälle», die<br />

in den Augen der Psychiater aber dennoch als «gemeingefährlich» einzustufen waren, nach vergleichsweise<br />

kurzer Zeit aus dem Strafvollzug entlassen wurden. 579 Was die psychiatrischen Kriminalpolitiker deshalb<br />

forderten, war keine mildere, sondern eine «andere» Bestrafung dieser vermindert Zurechnungsfähiger.<br />

Auf den Punkt brachte diese Position der Verfasser der Einleitung zu der zitierten Gutachtensammlung<br />

des Burghölzli: «Aber es sollte endlich einleuchten, dass für sie [die vermindert Zurechnungsfähigen] die<br />

üblichen ‹mildernden Umstände› <strong>und</strong> die Kürzung der Zuchthausstrafe so wenig passen wie die Faust auf<br />

das Auge. Sie müssen nicht kürzer, sondern anders bestraft werden. Die Strafe soll hier zugleich Kur <strong>und</strong><br />

eventuell dauernde Sicherheitshaft sein (je nach Erfolg).» 580 Das Dilemma, das sich hier in den Augen der<br />

Psychiater auftat, war allerdings eine mehr oder weniger direkte Konsequenz aus der konzeptuellen Aus-<br />

weitung psychiatrischer Deutungsmuster auf einen Übergangsbereich zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>-<br />

heit. Die mit der Stabilisierung neuer psychiatrischer Deutungsmuster wie der «psychopathischen Persön-<br />

574 Speyr, 1894, 190; VE 1893, 25.<br />

575 VE 1893, Art. 10-11.<br />

576 VE 1893, 24.<br />

577 Rusca, 1981, 124.<br />

578 Stooss, 1892/93, 193-196.<br />

579 Vgl. Forel, 1889, 14; Kölle, 1896, 5.<br />

580 Kölle, 1896, 7 (Hervorhebung im Original).<br />

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