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Psychiatrie und Strafjustiz

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digen in ihrem Gutachten über Fritz R. eindringlich auf dessen «erbliche Belastung» hin: «Wir sind über<br />

das Vorleben des Fritz R. nur sehr mangelhaft orientiert, wissen aber, dass er erblich schwer belastet ist,<br />

eine Schwester war geisteskrank, zwei Brüder epileptisch, auch wird man kaum fehl gehen, wenn man bei<br />

Eltern, den Geschwistern, Grosseltern noch weitere Fälle von geistigen Abnormitäten vermutet, bei sol-<br />

cher Progenitur.» 972 Die Argumentationsweise vollzog hier insofern einen Zirkelschluss, als die Psychiater<br />

zunächst von «geistigen Abnormitäten» in der Familie auf eine «erbliche Belastung» schlossen, diese aber<br />

zugleich zur Gr<strong>und</strong>lage der Vermutung weitere «Abnormitäten» in der Familie machten. Die zirkuläre<br />

Argumentation verdeutlicht die Selbstverständlichkeit, mit der die Sachverständigen mit dem Vererblichkeitsparadigma<br />

hantierten. Gewissermassen eine popularisierte Fassung zeitgenössischer Gr<strong>und</strong>annahmen<br />

über die Rolle der Vererbung enthielt ein Gutachten der Irrenanstalt Bellelay aus dem Jahre 1903: «Main-<br />

tenant on sait, que les prédispositions psychopathiques sont transmissibles par la voie héréditaire et que les<br />

descendants de familles dans lesquelles de cas de maladie mentale ou d’états psychopathiques maladifs se<br />

sont présentés, risquent de tomber malade ou qu’au moins ils héritent une disposition nerveuse plus ou<br />

moins prononcée. Dans ces circonstances il ne serait pas étonnant que l’accusé aussi portât des tares pa-<br />

reilles et en effet si nous y regardons de près nous pouvons constater que c’est le cas.» 973<br />

Die Psychiater unterschieden hier zwischen «nervösen Anlagen», die nicht zwingend zu einer Krankheit<br />

führen musste, <strong>und</strong> eigentlichen Geisteskrankheiten. Bei dem wegen Diebstahls angeklagten Henri F.<br />

verneinten die Sachverständigen das Vorhandensein einer Geisteskrankheit, nahmen aber gleichzeitig an,<br />

dass dessen «abnormer Charakter» auf eine vererbte «Disposition» zurückzuführen sei: «Nous n’hésitons<br />

nullement à déclarer qu’à notre avis F. a eu en effet le caractère anormal, dégénéré et que c’est par ce ca-<br />

ractère frappant que se manifeste la disposition maladive-héréditaire de son système nerveux.» Den Sach-<br />

verständigen erklärte die «erbliche Belastung» die häufigen Stimmungsschwankungen von Henri F. sowie<br />

die verschiedentlich bei ihm beobachteten «impulsiven Handlungen». 974 Auch im Fall von Richard Vogel<br />

begründeten die Psychiater die festgestellte «moralische Schwäche» <strong>und</strong> den «Mangel an sittlichem Gefühl»<br />

mit einer «erblichen Anlage: «Wie erklären beide durch eine abnorme Anlage infolge erblicher Belastung.<br />

Wir wissen in der Tat, dass Vogels Vater <strong>und</strong> Mutter, einer Tante väterlicherseits <strong>und</strong> der Grossvater müt-<br />

terlicherseits geisteskrank oder nervenkrank gewesen sind.» 975<br />

Eine vergleichsweise geringe Bedeutung massen die Berner Psychiater dagegen einer mangelhaften Erzie-<br />

hung zu. So hiess es im Gutachten über Luise W.: «Sie ist eine durch erblich erworbene Anlage geistig<br />

abnorm entwickelte Person, deren häusliche Erziehung zudem zu wünschen übrig liess.» 976 Eine gleiche<br />

Rangfolge aus vererbten Anlagen <strong>und</strong> erworbenen Eigenschaften postulierte das Gutachten über den<br />

20jährigen Paul C., der als Hilfsbriefträger verschiedene Wertsendungen unterschlagen hatte: «[Die] ange-<br />

klagte Handlung ist also als Folge verschiedener Ursachen zu betrachten. Zunächst einer angeborenen<br />

Veranlagung, die sich einerseits in einem etwas zurückgebliebenen, kindlichen Charakter, einem leichten<br />

Puerilismus, andererseits in einem Mangel an Trieb zu regelmässiger Arbeit, einem Zug zu schlechter Ge-<br />

sellschaft <strong>und</strong> besonders in heftigem geschlechtlichem Triebe, also in einer groben ethischen Minderwer-<br />

tigkeit äussert. Dazu kommt der ungünstige Einfluss der elterlichen Erziehung, des Kinos, der Sch<strong>und</strong>lite-<br />

ratur <strong>und</strong> der Kameraden.» 977 Das «dazu» implizierte eine Ursachenhierarchie, die einer mangelhaften<br />

Erziehung bei der Entstehung «psychopathischer Zustände» bloss eine sek<strong>und</strong>äre Rolle zuwies. Deu-<br />

972 PZM KG o.N. (1908), Psychiatrisches Gutachten über Fritz R., o.D. [1908].<br />

973 StAB BB 15.4, Band 1757, Dossier 9760, Psychiatrisches Gutachten über Henri F., 7. November 1903.<br />

974 StAB BB 15.4, Band 1757, Dossier 9760, Psychiatrisches Gutachten über Henri F., 7. November 1903.<br />

975 Speyr/Brauchli, 1894, 284.<br />

976 StAB BB 15.4, Band 1856, Dossier 621, Psychiatrisches Gutachten über Luise W., 16. August 1908.<br />

977 StAB BB 15.4, Band 2072, Dossier 1735, Psychiatrisches Gutachten über Paul C., 16. Januar 1918.<br />

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