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Psychiatrie und Strafjustiz

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lungsmuster. Im Gegenzug erhielten forensische Aufgaben einen zusehends wichtigeren Stellenwert in-<br />

nerhalb der beruflichen Tätigkeit der Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzte. Wie anhand der Entwicklung der gestellten<br />

Diagnosen gezeigt werden kann, ist die Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis zu einem guten<br />

Teil auf die Aneignung <strong>und</strong> Verankerung neuer psychiatrischer Deutungsmuster in der Justizpraxis zu-<br />

rückzuführen. Damit einher ging eine Zunahme des Anteils der als vermindert zurechnungsfähig beurteil-<br />

ten StraftäterInnen. Die psychiatrisch neu erschlossenen «Grenzzustände» <strong>und</strong> das Rechtsinstitut der ver-<br />

minderten Zurechnungsfähigkeit funktionierten gleichsam als systemspezifische Korrelate, deren gegensei-<br />

tige Abstimmung wesentlich zu einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens beizutragen vermochte.<br />

Da psychiatrische Begutachtungen in der Regel von den Justizbehörden angeordnet wurden, wird<br />

hinter den gestiegenen Gutachtenzahlen die zugenommene Sensibilität der Justizbeamten gegenüber zwei-<br />

felhaften Geisteszuständen erkennbar. Solche Lernprozesse manifestierten sich in der Bereitschaft, eine<br />

wachsende Zahl von DelinquentInnen psychiatrisch begutachten zu lassen. Sie müssen als eigentlicher<br />

Motor für die festgestellte Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis betrachtet werden. Aufgr<strong>und</strong><br />

der bestehenden Kompetenzverteilung gingen Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis weniger von<br />

der <strong>Psychiatrie</strong> als von den Justizbehörden aus. Ein solches «psychiatrisch sensibilisiertes Justizwesen»<br />

(Martin Lengwiler) sah in der Inanspruchnahme psychiatrischer Sachverständiger ein probates Mittel zur<br />

Bewältigung kriminellen Verhaltens. Dieser Trend zu einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung<br />

kommt ebenfalls in den vergleichsweise seltenen Differenzen zwischen den Meinungen der Experten <strong>und</strong><br />

den Entscheiden der Justizbehörden zum Ausdruck. Die in diesem Kapitel unternommene statistische<br />

Analyse zeigt somit, dass die Berner Justizbehörden im Untersuchungszeitraum nicht nur bereit waren, die<br />

Kompetenz psychiatrischer Sachverständiger in Anspruch zu nehmen, sondern auch die eingeholten Gut-<br />

achten in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Für die betroffenen DelinquentInnen bedeuteten<br />

solche Medikalisierungstendenzen, dass sie zwar ganz oder teilweise der strafrechtlichen Repression ent-<br />

gingen, dass sie aber im Gegenzug zu Objekten eines psychiatrischen Strafwissens wurden <strong>und</strong> sich neuen<br />

institutionellen Zugriffen durch die <strong>Psychiatrie</strong> ausgesetzt sahen.<br />

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