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Psychiatrie und Strafjustiz

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teilten Eugen I. Dieser war in einem psychiatrischen Gutachten als «debiler, unsteter, homosexueller Psy-<br />

chopath» bezeichnet worden. Eine Kastration lehnte auch er ab. Wyrschs Prognose fiel in diesem Fall<br />

ausgesprochen ungünstig aus: «Die Debilität ist bei dem Manne nicht gerade auffällig. Im Übrigen erweist<br />

er sich auch bei dieser kurzen Untersuchung, dass er ein einsichtsloser Homosexueller ist, der höchstens<br />

durch die lange Strafe etwas abgeschreckt ist, aber sonst viel zu willensschwach <strong>und</strong> gleichgültig ist, um<br />

neuen Versuchungen widerstehen zu können. Da eine psychotherapeutische Behandlung keine Aussicht<br />

auf Erfolg bietet, so bleibt also nur die Verwahrung oder die Kastration übrig, wobei zu bemerken ist,<br />

dass die letztere bei Homosexuellen nicht immer den gewünschten Erfolg hat. Die Bevorm<strong>und</strong>ung dürfte<br />

die Rolle der sichernden Massnahme nicht erfüllen können [...]» 1610<br />

Aufgr<strong>und</strong> der heutigen Kenntnisse ist davon auszugehen, dass im Kanton Bern wie auch in andern Kan-<br />

tonen Kastrationen kaum gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Männer vorgenommen wur-<br />

den. Wie die beiden erwähnten Fallbeispiele zeigen, vermochten die Psychiater allerdings mit ihren Kastra-<br />

tionsempfehlungen beträchtlichen Druck auszuüben. Selbst eine 1946 im Burghölzli verfasste Studie über<br />

31 Kastrationsfälle relativierte die Freiwilligkeit solcher Zustimmungen: «Von Freiwilligkeit, im Sinne eines<br />

wirklich freien, eigenen Entschlusses, war aber in der grossen Mehrzahl der Fälle nicht viel vorhanden, da<br />

die Betroffenen durch den Zwang der Situation zum Entschluss gebracht wurden. Es gingen mehrfache<br />

Strafverfahren voraus, mehrfache Verwarnungen <strong>und</strong> Internierungen <strong>und</strong> zum Schluss konnte der Patient<br />

nur zwischen dauernder Internierung oder Kastration ‹frei› wählen.» 1611 Auch die von Stuker zusammenge-<br />

tragenen Fallbeispiele aus Münsingen zeigen, wie Männer, die eine Kastration spontan ablehnten, ange-<br />

sichts der drohenden langjährigen Verwahrung schliesslich meist doch in eine Operation einwilligten. 1612<br />

Die Perspektive der Insassen: Psychische Beschwerden <strong>und</strong> Vollzugserleichterungen<br />

Die bisher angeführten Fallbeispiele legen nahe, in der Einrichtung psychiatrischer Sprechst<strong>und</strong>en in ers-<br />

ter Linie ein Instrument der Strafvollzugsbehörden zur Aufrechterhaltung eines reibungslosen Strafvoll-<br />

zugs <strong>und</strong> zur Handhabung des neuen Massnahmenrechts zu sehen. Eine solche «Disziplinarperspektive»<br />

ist allerdings insofern zu relativieren, als die psychiatrische Sprechst<strong>und</strong>enpraxis vielen Häftlingen im Ge-<br />

genzug Möglichkeiten zur Wahrnehmung eigener Handlungskompetenzen bot. Nicht wenige Häftlinge nahmen<br />

denn auch aus eigener Initiative das psychiatrische Sprechst<strong>und</strong>enangebot in Anspruch. Eine Unterredung<br />

mit dem Psychiater unter vier Augen erlaubte ihnen, psychische Beschwerden <strong>und</strong> konkrete Anliegen zur<br />

Sprache zu bringen. Einige Häftlinge versuchten sogar, den Sprechst<strong>und</strong>enpsychiater als einen Verbünde-<br />

ten gegen die Anstaltsleitung zu gewinnen. Solche Versuche unterschätzten allerdings die asymmetrischen<br />

Machtverhältnisse des Strafvollzugs, in die letztlich auch die Sprechst<strong>und</strong>epraxis eingeb<strong>und</strong>en blieb.<br />

Aus eigener Initiative zur psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>e gemeldet hatte sich der 21jährige Otto Z., der<br />

vom Regierungsrat im Anschluss an eine Gefängnisstrafe aufgr<strong>und</strong> Artikel 62 des Armenpolizeigesetzes<br />

nach Witzwil eingewiesen worden war. Gegenüber Wyrsch machte Otto Z. seiner Empörung über die<br />

Einweisung Luft <strong>und</strong> klagte über «schwere Träume» <strong>und</strong> Schlafstörungen. Er habe den ihm zur Last geleg-<br />

ten Einbruchdiebstahl nicht begangen <strong>und</strong> sei deshalb zu Unrecht verurteilt worden. Auch sonst sei in<br />

seinem Leben «viel Unrecht passiert». Otto Z. beklagte sich über seinen Vater, der ihn öfters ungerecht<br />

bestraft <strong>und</strong> auch seine Verlobung verhindert habe. Gemäss Wyrschs Bericht war Otto Z. aber in erster<br />

Linie froh, «dass er sein Herz erleichtern kann». Der Psychiater hielt ihn für «in leichtem Grade schwach-<br />

sinnig» <strong>und</strong> vermutete, dass «Trotz» zumindest mitschuldig an seiner «Asozialität» sei. Wyrschs Bericht<br />

1610 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Eugen I. an die Strafanstalt Witzwil, 17. Dezember 1946.<br />

1611 Thürlimann, 1946, 198. Zur Zürcher Praxis: Huonker, 2002, 156-163.<br />

1612 Stuker, 1999, 113.<br />

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