13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

te. 986 Ein «inneres Gleichgewicht» sollte dem bürgerlichen Individuum im Normalfall erlauben, adäquat<br />

<strong>und</strong> kontrolliert auf äussere Umstände zu reagieren sowie unangemessene Gefühlsausbrüche zu vermei-<br />

den. Deutlich zum Ausdruck brachte die zur Norm erhobene Affektbalancierung das Gutachten über die<br />

Brandstifterin Elisabeth Z. aus dem Jahre 1904: «Solche Kranke [«Individuen mit zu Geisteskrankheit<br />

disponierender psychopathischer Konstitution»] verarbeiten die äusseren Reize, die auf sie einwirken in<br />

abnormer Weise; sie sind sehr empfindlich, misstrauisch, streitsüchtig <strong>und</strong> nörgelnd, werden beim gerings-<br />

ten Anlass heftig aufgeregt, zornig oder ängstlich; es kommt bei Fehlen jeder Selbstbeherrschung zu Wut-<br />

ausbrüchen, Gewalttätigkeiten, impulsiven Affekthandlungen, Verbrechen [...]. Es fehlt die hemmende<br />

Harmonie im Seelenleben, die berechenbare, gleichmässige Stimmung bei diesen Menschen.» 987<br />

Das Psychopathiekonzept erlaubte den Psychiatern, bürgerliche Untugenden wie Unberechenbarkeit,<br />

Streitsucht, Misstrauen, Nörgelei, Wutausbrüche oder Gewalttätigkeiten nicht als Ergebnis einer verfehl-<br />

ten Erziehung, einer bewussten Entscheidung oder einer individuellen Nachlässigkeit, sondern als Aus-<br />

druck einer unzureichenden «Harmonie des Seelenlebens» zu deuten, die sich als mangelhafte Selbstbe-<br />

herrschung manifestierte. Unangemessenes gesellschaftliches Verhalten geriet dadurch zum Zeichen einer<br />

dem Individuum innewohnenden «Abnormität». Dass ein inneres Gleichgewicht tatsächlich zur Voraus-<br />

setzung einer «sittlichen Selbstführung» gehörte, postulierte ebenfalls der Direktor der Irrenanstalt Belle-<br />

lay, Hugo Hiss, 1910 in einem öffentlichen Vortrag. Seiner Ansicht nach gehörte zu einer «normalen Cha-<br />

rakteranlage», das sich Intelligenz <strong>und</strong> die «verschiedenen Gefühls- <strong>und</strong> Gemütsempfindungen» in einem<br />

«richtigen Verhältnis zueinander» befänden. Gefühlsreaktionen wie Trauer, Zorn oder Furcht seien zwar<br />

durchaus als «normal» anzusehen, jedoch nur solange, als sie nicht über «ein gewisses Mass» hinausgehen<br />

würden. Was Abweichungen von diesem Normalmass betraf, stellte Hiss fest: «Nun gibt es eine grosse<br />

Zahl von Menschen, bei denen dieses Mass weit überschritten wird, bei denen die mannigfaltigen Ge-<br />

mütsstimmungen zu krankhafter Höhe sich steigern: wütender Hass, rasende Liebe, höchste Anerken-<br />

nung, tiefste Verachtung, höchste Freude, tiefstes Leid, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, das ist<br />

das Charakteristikum dieser Leute. Einen ruhigen, gelassenen Mittelpunkt kennen sie eigentlich nicht [...].»<br />

Nebst einer solchen «Störung in der Charakteranlage» durch ein «zu viel» an Gefühlsregungen, wollte Hiss<br />

aber auch ein «zu wenig» erkennen, das sich in Gleichgültigkeit sowie Mangel an Energie <strong>und</strong> Willenskraft<br />

äussern würde. 988 Verstösse gegen einen bürgerlichen Verhaltenskodex, der ein «richtiges Verhältnis» der<br />

Affekte, einen «ruhigen, gelassenen Mittelpunkt», Mässigkeit <strong>und</strong> Selbstkontrolle vorsah, überschritten in<br />

der psychiatrischen Perspektive demnach die Schwelle der «Normalität». Sie wurden damit zu Anzeichen<br />

eines «abnormen Charakters» <strong>und</strong> einer «psychischen Entartung».<br />

«Verminderte Widerstandskraft» <strong>und</strong> «Haltlosigkeit»<br />

Um zu einer Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zu gelangen, versuchten die Sachverständigen, Befun-<br />

de wie eine «moralische Schwäche» oder «abnorme Gefühlsreaktionen» zu einer stringenten Deutung der<br />

angeklagten Handlungen zu verweben. Wie das Fallbeispiel von Lina H. verdeutlicht, spielte dabei das<br />

Modell einer «verminderten Widerstandskraft» ein zentrale Rolle, welches bereits im Zusammenhang mit<br />

den Spezialmanien <strong>und</strong> vor allem im Anschluss an die Degenerationstheorie Eingang in den psychiatri-<br />

schen Kriminalitätsdiskurs gef<strong>und</strong>en hatte. 989 Damit verb<strong>und</strong>en war eine (kritische) Reaktivierung der<br />

Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses.<br />

986 Vgl. Kp. 7.52.<br />

987 StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80, Psychiatrisches Gutachten über Elisabeth Z., 26. August 1904.<br />

988 Hiss, 1910, 11-13.<br />

989 Vgl. Lukas/Wernz/Lederer, 1994, 190-197.<br />

230

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!