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Psychiatrie und Strafjustiz

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Bezeichnend für Binders Verständnis der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> ist, dass seine Evaluation der gängigen<br />

Normalitätskonzepte in erster Linie aufgr<strong>und</strong> der von ihm für «zweckmässig» erachteten Auswirkungen<br />

auf die forensisch-psychiatrische Praxis erfolgte. Binder ging von der Prämisse aus, dass das schliesslich zu<br />

wählende Normalitätskonzept im Einklang mit dem geltenden Schuldstrafrecht stehen sollte. Er kehrte<br />

damit die Argumentation seiner früheren Fachkollegen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

von einer Ausweitung des forensisch relevanten Abnormitätsbereichs eine Unterwanderung des Schul-<br />

strafrechts <strong>und</strong> eine weitgehende Medikalisierung kriminellen Verhaltens erhofft hatten, in ihr Gegenteil.<br />

Damit verb<strong>und</strong>en war die Befürchtung, mittels einer zu flexiblen Normalitätsdefinition einer laxen Exkul-<br />

pationspraxis Vorschub zu leisten. Binders Optieren für das Gleichgewichtsmodell wurde somit in erster<br />

Linie von kriminalpolitischen Anliegen geleitet. Einen weiteren Vorteil des Gleichgewichtsmodells sah<br />

Binder darin, dass dieses eine Differenzierung einzelner Verhaltensweisen mittel der Kategorien Ges<strong>und</strong>-<br />

heit, Abnormität <strong>und</strong> Krankheit erlaubte. Bei «abnormem» Verhalten handle es sich, so Binder, um quanti-<br />

tative Abweichungen vom ges<strong>und</strong>en «Prägnanztyp», bei eigentlichen Krankheiten dagegen um qualitative<br />

Abweichungen von der Gleichgewichtsnorm aufgr<strong>und</strong> nachweisbarer organischer Veränderungen. 1573 Aus<br />

dieser doppelten Differenz ergab sich zum einen ein Kontinuum zwischen normalem <strong>und</strong> abnormem<br />

Verhalten, das für den Gutachter jedoch zumindest teilweise einfühlbar blieb. Von diesem Normalfeld<br />

abgegrenzt wurde zum andern der Bereich der eigentlichen Geisteskrankheiten auf organischer Gr<strong>und</strong>lage.<br />

Offensichtlich ist in diesem Zusammenhang Binders Versuch, seine «praktisch brauchbare Begrenzung<br />

des Normalen» mit der rechtlichen Trias von Zurechnungsfähigkeit, verminderter Zurechnungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Unzurechnungsfähigkeit zur Deckung zu bringen. Auch hier bestimmten letztlich die Anforderungen<br />

der gerichtspsychiatrischen Praxis die Stossrichtung der wissenschaftlichen Systematisierung.<br />

In seinem 1952 erschienenen Buch Die Geisteskrankheit im Recht, das ähnlich wie Wyrschs Lehrbuch eine<br />

grosse Verbreitung unter Schweizer Juristen <strong>und</strong> Psychiatern fand, beschäftigte sich Binder zudem mit der<br />

Abgrenzung zwischen einem medizinischen <strong>und</strong> einem alltäglichen Krankheitsbegriff. Im Fall des medizi-<br />

nischen Krankheitsbegriffs stützte er sich weitgehend auf seine Überlegungen zum Normalitätskonzept<br />

<strong>und</strong> differenzierte zwischen qualitativen <strong>und</strong> quantitativen Abweichungen, zwischen uneinfühlbaren Geis-<br />

teskrankheiten <strong>und</strong> teilweise einfühlbaren Geistesstörungen. Zentral für Binders Diskurs war, dass sowohl<br />

der medizinische, als auch der alltägliche Krankheitsbegriff auf demselben Kriterium der Einfühlbarkeit<br />

beruhten. Abweichungen zwischen den beiden Krankheitsbegriffen kamen deshalb lediglich im Grenzbereich<br />

der «Abnormität» vor, etwa im Fall von schleichenden Psychosen oder schweren Charakterstörun-<br />

gen. Dadurch reduzierte er potenzielle Divergenzen zwischen den beiden Krankheitsbegriffen auf ausge-<br />

sprochene «Grenzfälle». 1574 Binder ging aber noch einen Schritt weiter, indem er den alltäglichen – <strong>und</strong><br />

explizit nicht den medizinischen – Krankheitsbegriff für die juristische Praxis als massgebend bezeichnete.<br />

Ungeachtet der früheren Vorstösse seiner Fachkollegen behauptete Binder, die Schöpfer des Straf- <strong>und</strong><br />

Zivilrechts hätten den Krankheitsbegriff der Umgangssprache <strong>und</strong> nicht derjenige der (damaligen) Medi-<br />

zin im Sinne gehabt. 1575 Mit dieser Argumentation vermochte Binder medizinische <strong>und</strong> juristische Krank-<br />

heitsbegriffe hinreichend zu differenzieren: «Da der juristische Begriff der Geisteskrankheit entsprechend<br />

demjenigen der Umgangssprache zu verstehen ist, so sind damit im Gesetz nur solche Fälle gemeint, bei<br />

denen psychische Symptome oder Verlaufsweisen hervortreten, die einen stark auffallenden Charakter<br />

haben <strong>und</strong> die einem besonnenen Laien nach hinreichender Bekanntschaft mit dem Prüfling den Ein-<br />

druck völlig uneinfühlbarer, qualitativ tiefgehend abwegiger, grob befremdender Störungszeichen machen.<br />

1573 Binder, 1979a, 32f.<br />

1574 Binder, 1952, 37-51, 115; Binder, 1951.<br />

1575 Binder, 1952, 64.<br />

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